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Wie man in Deutschland schläft und träumt
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DIE ZEIT


11/2004  


Wie man in Deutschland schläft und träumt

Die Mehrheit liegt sieben Stunden auf mittelweichen Federkernen unter Decken aus Federn oder Polyester. Die meisten schlafen besser, als sie glauben – typisch deutsch. Ihre Träume sind es nicht

Von Dieter E. Zimmer

Wie man in Deutschland schläft und träumt? Wenn man den Leuten die Frage stellt, bekommt man Antworten, die kaum mehr als ein Achselzucken sind: Wer kann das schon wissen! – Im Bett natürlich. – Wie überall, denke ich. – Deutschland schaltet jede Nacht ab. – So weit: ganz gut. © Jochen Klein für DIE ZEIT jochen.klein@gmx.net

Im Großen und Ganzen sind die Antworten nicht einmal falsch.


Wer kann das schon wissen!

Eine mögliche Definition des Schlafes lautet: der regelmäßig wiederkehrende Zustand einer jederzeit reversiblen Bewusstlosigkeit (aus dem Schlaf kann man geweckt werden, aus dem Koma nicht). Was während einer Bewusstlosigkeit in uns geschieht, wissen wir natürlich nicht, und auch Erinnerungen daran sind nicht vorhanden, mit Ausnahme weniger Traumerinnerungen. Insofern entzieht sich das nächtliche Drittel unseres Lebens tatsächlich unserer Kenntnis. Wir erinnern uns nicht einmal an das Einschlafen; die letzten Minuten davor sind am nächsten Morgen aus dem Gedächtnis getilgt. Aber wenn man die Frage wörtlich nimmt und sich mit ihr an die medizinische und psychologische Schlafforschung wendet, bekommt man durchaus Antworten. Es geht schließlich um einen radikal anderen Zustand des Gehirns, mehrere Zustände sogar, die nicht weniger interessant sind als der wache, aber noch schwerer auszukundschaften.

„Schlafforschung“ – allein das Wort scheint bei manchen ein Gähnen auszulösen. Es sind die guten Schläfer, zumal solche, die für nichts Neugier aufbringen, was für sie kein dringendes persönliches Problem bedeutet. Interessant, brennend interessant wird der Schlaf aber, wenn er sich nicht mehr wie gewohnt einstellen will. Von den schlechten Schläfern bekäme man eine ganz andere Antwort: Ich weiß nicht, wie die anderen schlafen – ich selber jedenfalls wünschte nichts im Leben so sehr wie eine wieder einmal richtig durchschlafene Nacht.


Im Bett.

Wie man sich bettet, so schläft man. Wer sich an weniger verwöhnte Zeiten erinnert, wird nichts gegen eine Umkehrung des Spruches haben: Wie man sich auch bettet, man schläft. Dass man im Bett schläft und dass das Bett möglichst in einem dunklen, ruhigen, gut belüfteten und nicht zu warmen Raum stehen sollte, büßt seine Selbstverständlichkeit ein, sobald man sich vergegenwärtigt, wie in anderen Kulturen und zu anderen Zeiten geschlafen wurde und wird. Die Höhlenmenschen des Paläolithikums haben vermutlich auf und unter Fellen geschlafen. In Mittelamerika wird, auch en famille, in teils kunstvoll geknüpften Hängematten geschlafen. Die Bewohner Tibets sollen über die Fähigkeit verfügt haben, in ihren Pelzen auch bei großer Kälte im Freien zu schlafen, und zwar in der Hocke. Auf dem Tokyoter Bahnhof Shinjuko schlafen Männer in Pappkartons. In China schlief man, zu vielen, auf dem Kang, einem Ofen, der, wenn er mit Mist beheizt wurde und keinen Abzug nach außen hatte, den Schlafraum in eine Räucherkammer verwandelte.

Das Bett gibt es in Europa seit der Antike. Es hat seine Form kaum verändert. Man sieht ihm noch heute an, dass es einmal ein mit Stroh oder Heu voll gestopfter, zum Schutz vor Bodenfeuchte und Kriechgetier erhöht stehender Holzkasten war. Aber bis ins 20. Jahrhundert hinein war im ländlichen Norddeutschland das vornehm Alkoven genannte, mit einem Vorhang verkleidete wandfeste Schrankbett gang und gäbe, in das sich Bauer und Bäuerin, Knechte und Mägde abends zurückzogen. So beengt und unbelüftet wird in Deutschland heute nur noch in den Kojen von Lkw-Fahrerhäusern, Schiffen und Campingmobilen geschlafen.

Die berüchtigte deutsche „Ritze“ – die fühlbaren Seitenbretter zwischen den Matratzen der ehelichen Doppelbettstatt – ist so gut wie ausgestorben, auch wenn schmale Hotelbetten, aus denen die Arme nachts über harte Kanten hängen, die Erinnerung an sie lebendig halten. Die schwere deutsche Ballondecke der Großelterngeneration, eigentlich ein mit verrutschenden und verklumpenden Federn gefüllter Sack, ist gleichfalls verschwunden, und es wird ihr keine nostalgische Träne nachgeweint.

90 mal 190 Zentimeter: Das waren die Abmessungen von Goethes bescheidenem Bett am Weimarer Frauenplan, 1783 aus Tannenholz gefertigt. Auf den ergriffenen Betrachter wirkt es heute ziemlich kurz, vor allem wenn er weiß, dass Goethe groß von Statur gewesen sein soll. Das war er mit seinen 174 Zentimetern zu seiner Zeit tatsächlich, als das Mittel bei 164 lag. Heute, da es bei 178 liegt, wirkte er nicht mehr so groß, aber dennoch möchte man ihm die jetzige deutsche Standardmatratze gönnen. Sie misst 90 mal 200 Zentimeter. Selbst manches bessere Hotel hat seinen Gästen nichts Geräumigeres zu bieten; trotz aller Amerikanisierung sind die üppigen amerikanischen Formate (das Kingsize-Bett ist bei einer Länge von 205 Zentimetern 195 breit) noch nicht durchgedrungen, wohl aus Platzmangel in den engeren deutschen Hotelzimmern.

Jedenfalls scheinen die Deutschen Wert auf ihr Lager zu legen. In einigen Gegenden Berlins gewinnt man den Eindruck, an jeder dritten Straßenecke befinde sich ein Matratzenmarkt, und tatsächlich stehen auf den dortigen Gelben Seiten doppelt so viele Matratzengeschäfte wie Wäschereien. Was für Matratzen? Den Löwenanteil halten die althergebrachten Federkernmatratzen (teurere Variante: Taschenfederkern) – etwa 66 Prozent. Sie seien preisgünstig und ließen sich auf jeden Unterbau legen, behauptet im Internet www.schlafkampagne.de, aber „Fachkreise bemängeln die mangelnde Punktelastizität“ – und hellhörige Nachbarn das Quietschen der älteren Exemplare. Auf Schaumstoffmatratzen (bevorzugte Variante: Kaltschaum) entfallen 20 Prozent, auf Latex 12. Alles andere (Baumwolle, Rosshaar, Wasser) fristet ein Nischendasein. Leichte, abgesteppte Oberdecken haben Onkel Fritzens Ballondecke völlig verdrängt. Aber Füllungen aus Federn-Daunen-Mischungen sind noch ebenso häufig wie aus Chemie- und Naturfasern; Letztere jedoch befinden sich auf dem Rückzug. Die für die Wirbelsäule günstigste Matratze und die „ökologisch“ harmloseste Deckenfüllung sind Gegenstand glühender Debatten.

Da also liegen die Deutschen mehrheitlich auf mittelweichen Federkernen unter ihren Zudecken aus Federn oder Polyester – aber liegen sie allein? Es ist eine Frage, die manche Ehe zerrüttet hat. Laut einer Umfrage der Zeitschrift Haus meinen 53 Prozent von ihnen am besten zu schlafen, wenn ihr Partner beziehungsweise ihre Partnerin neben ihnen liegt; 46 Prozent glauben sogar, etwas stimme mit der Beziehung nicht, wenn ein Paar getrennt schläft. Und wie die Gesellschaft für Erfahrungswissenschaftliche Sozialforschung ermittelte, optieren nur 6 Prozent der zusammen wohnenden Paare für getrennte Schlafzimmer. Aber da im Durchschnitt 36 Prozent der deutschen Haushalte Single-Haushalte sind, in Großstädten sogar bis zu 50 Prozent, kann man annehmen, dass fast die Hälfte aller Erwachsenen tatsächlich, wenn auch zum Teil wider Willen, allein schläft.

Warum manche dem Usus entgegen auf getrennten Schlafzimmern bestehen, ist kein Geheimnis. Bereitwillig verrät es einem das Internet: „Gesunder Schlaf ist ein Menschenrecht, und es ist nicht einzusehen, wieso einer verzweifelt sich die Kissen über die Ohren zieht und um seinen lebenswichtigen Schlaf kämpft, während der andere ganze Urwälder absägt!“ – „Viele meinen ja, es müsste alleine wegen Sex und Zärtlichkeit die Nähe unbedingt sein, aber ich bin viel zu egomanisch und brauche meinen Freiraum, meine Luft zum Atmen und möchte mich immer wieder auf den anderen freuen können.“


Wie überall.

Der Schlaf ist ein neurophysiologischer Prozess, der bei allen Menschen gleich ist. Einen speziell deutschen Schlaf gibt es so wenig wie eine deutsche Verdauung.

Gleich ist überall die Schlafdauer. Fünf bis zehn Stunden braucht der erwachsene Mensch; das Mittel, so fand der Regensburger Schlafforscher Jürgen Zulley, liegt bei sieben. Dass andere Erhebungen ein etwas höheres Mittel fanden, knapp acht, erklärt er damit, dass meist nach der „Zeit im Bett“ gefragt wird und nicht nach der Schlafdauer. Zulley zufolge geht der Durchschnittsdeutsche um 23.04 Uhr ins Bett, liegt noch eine Viertelstunde wach, wacht um 6.18 Uhr auf, hat dann genau sieben Stunden geschlafen – und verbringt somit 30 Prozent seines Lebens im Schlaf.

Dieser Durchschnittsdeutsche ist eine imaginäre Person, der Durchschnittswert kein Normal- oder gar Sollwert. Jeder hat seine eigene optimale Schlafdauer, die er nicht ungestraft unter- oder überschreitet. Napoleon, Edison und Churchill kamen angeblich mit nur fünf Stunden aus, Goethe und Einstein brauchten zehn. Frauen brauchen in der Regel etwas mehr als Männer. Mit zunehmendem Alter, scheint es, wird das Schlafbedürfnis nicht geringer, sondern eher wieder größer, aber in der dem Schlaf reservierten Zeit wird weniger wirklich geschlafen – man schläft nicht schwerer ein, aber der Schlaf wird weniger tief, man wacht öfter auf und liegt dann eine Weile wach, und früher ist er ganz zu Ende. Darum fühlen sich ältere Menschen eher unausgeschlafen.

Aufsehen erregte 2002 eine große (auf Langzeitbeobachtungen an 1,1 Millionen Probanden beruhende) amerikanische Studie von Daniel F. Kripke an der Universität Kalifornien in San Diego, die einen Zusammenhang zwischen Schlafdauer und Lebenserwartung postulierte. Wer regelmäßig sieben Stunden schlafe, lebe am längsten, verkündete sie, ein Weniger wie ein Mehr verkürze die Lebenszeit. Eine neue, ebenfalls sehr umfangreiche japanische Langzeiterhebung kam zu einem ähnlichen Schluss: Am längsten lebe in Japan, wer sechseinhalb bis siebeneinhalb Stunden schlafe. Kripkes Studie wurde wegen zahlreicher methodischer Mängel von Kollegen heftig kritisiert; sogar die Amerikanische Schlafvereinigung warnte vor dem voreiligen Schluss, Langschläfer könnten durch Verzicht auf Schlaf ihr Leben verlängern. Es ist nämlich ungewiss, was hier was verursacht. Kranke schlafen normalerweise länger – und haben gleichzeitig eine höhere Mortalität. An ihrem längeren Schlafen sterben sie nicht.

Das Gefühl einer gewissen Unausgeschlafenheit ist in Deutschland weit verbreitet, aber im Abnehmen begriffen. Die Unausgeschlafenen stellen nicht mehr die Mehrheit. Auf eine entsprechende Frage des Instituts für Demoskopie Allensbach im vergangenen Jahr antworteten 42 Prozent der Erwachsenen, sie wünschten sich mehr Schlaf; drei Jahre vorher waren es noch 52 Prozent.

In einem unterscheiden sich die Schlafgewohnheiten einzelner Länder allerdings. Deutschland gehört zu den Weltgegenden, in denen die Siesta die Ausnahme und geradezu verrufen ist – sie gilt als Zeichen von Faulheit. Die Redensart „auf der faulen Haut liegen“ meint den Mittagsschlaf. In Deutschland liegt man nicht auf der faulen Haut. In den heißen Ländern des Mittelmeers, in China und Südostasien ist das ganz anders. Physiologisch aber sind nicht nur Südländer für das „Schläfchen“ programmiert. Der zunächst über den ganzen Tag verteilte Kinderschlaf zieht sich bis zum vierten Lebensjahr auf zwei Perioden zusammen, eine lange Nacht- und eine kürzere Mittagsperiode, und das zweite, mittägliche Einfallstor für den Schlaf bleibt weiter bestehen, wenn die Kinder etwa mit acht Jahren ihren Mittagsschlaf eingestellt haben. (Die „Schlaffenster“ während des Tages, in denen das Schlafen am leichtesten fällt, sind die Zeiten um 9, 13 und 17 Uhr, die am schwersten zu knackende Wachzone am Abend liegt kurz vor der danach rasch einsetzenden großen Nachtmüdigkeit). Bei denen, die ihn sich leisten können und wollen, könnte ein kurzer Mittagsschlaf wahrscheinlich ein nächtliches Schlafdefizit kompensieren.

Der Stanforder Schlafforscher William C. Dement, einer der Begründer der Schlafmedizin, glaubt, die städtische Zivilisation habe dem Menschen etwa 20 Prozent seines Schlafes geraubt: durch elektrisches Licht, verschobene Arbeitszeiten und die vielfältigen Zerstreuungen der Nacht. „Die Nacht wurde zum Tage“ – Schlafstörungen als Zivilisationskrankheit im Gefolge. Kurt Stephan, der ein Buch über ebendieses Thema verfasst hat, widerspricht. Zwar strapaziere die Zivilisation bei vielen die körpereigenen Rhythmen und führe damit auch zu Beeinträchtigungen des Schlafs, aber zur epidemischen Ausbreitung von Schlafstörungen habe sie nicht geführt. Schon im Griechenland des Hippokrates und im 16. und 17. Jahrhundert galten sieben Stunden Schlaf als das Normale. Wohl aber habe uns die Zivilisation ein Dauerdilemma aufgebürdet: höhere Anforderungen an unsere Wachheit während des Tages, die von keinem erholsameren Nachtschlaf aufgewogen werden.


Im Schlaf schaltet man ab.

Lange wurde der Schlaf als eine Phase eintöniger Ereignislosigkeit missachtet. Seit in den dreißiger Jahren Mediziner erstmals die elektrische Tätigkeit des Gehirns im Wachen und Schlafen maßen, weiß man, dass das Gehirn im Schlaf nicht abgeschaltet ist. Es geschieht dort etwas. Schlaf ist ein aktiver Zustand, und ausgeschaltet ist nur die Kontrollinstanz des Wachbewusstseins. 1952 stellte sich heraus, dass diese Aktivität eine Ordnung hat, als in einem Schlaflabor in Chicago sozusagen ein zweiter Schlaf entdeckt wurde. Nach den rollenden Augenbewegungen, die in ihm auftreten, heißt er REM-Schlaf (Rapid Eye Movement). REM und NonREM wechseln einander in regelmäßigem Turnus ab. Pro Nacht gibt es fünf bis sechs solcher Zyklen. Normalerweise beginnt jeder Zyklus mit NonREM: Die elektrischen Wellen, die das EEG außen am Schädel abgreift, werden langsamer und höher, das Gehirn schwingt also zunehmend im Gleichtakt, der Schlaf wird tiefer. („Tief“ bedeutet: Der Schläfer ist schwerer zu wecken.) Plötzlich hören die langsamen hohen Wellen auf, das Gehirn wird so unruhig wie im Wachen, gleichzeitig tritt eine völlige Muskelerschlaffung ein. Dies ist der Moment, da Schläfern in der Eisenbahn plötzlich der Kopf auf die Brust kippt: REM, die REM-Lähmung. Das Rollen der Augen bedeutet nur, dass allein die Augenmuskeln von dieser ausgenommen sind und der Schläfer in seinen Träumen um sich blickt wie im Wachen. Im Laufe der Nacht werden die NonREM-Phasen immer weniger tief und die REM-Phasen immer länger. Tiefschlaf und REM – die beiden entscheidenden Komponenten des Schlafs – machen je etwa 20 Prozent der ganzen Schlafzeit aus. Der Schlaf hat also eine Struktur, eine Architektur, und bei Schlafstörungen stellt man unweigerlich fest, dass nicht einfach ein Zuwenig oder Zuviel an Schlaf stattfindet, sondern dass seine Architektur auf eine bestimmte Weise beschädigt ist. Bei Insomnikern fehlt es oft an den tieferen NonREM-Stadien, Depressionskranke beginnen ihren Schlaf mit einer irregulären REM-Phase.

Welchem Zweck dient die ganze Veranstaltung, die sich das Gehirn Nacht für Nacht arrangiert und offenbar arrangieren muss? Lange Zeit glaubten manche Schlafforscher aus ihren Messdaten schließen zu können, Schlafentzug habe überhaupt keine wirklich abträglichen Folgen; das Einzige, was er bewirke, wäre ein immer unwiderstehlicher werdender Schlafdrang. Also diene der Schlaf gar keinem erkennbaren Zweck – und ließe sich möglicherweise einsparen. Heute weiß man es anders. Ein anhaltender Schlafmangel senkt die Aufmerksamkeit, die Wachsamkeit, das Reaktionsvermögen, die Motivation, die Spannkraft, das logische Denkvermögen, die Wortfindung und allgemein das Befinden – kurz, er macht dumm, wie es William C. Dement ausdrückte, einer der Begründer der Schlafmedizin. Laborratten, die am Schlafen gehindert wurden, starben nach 16 Tagen, schneller als am Hunger – ob am Schlafmangel selbst oder am Stress des Schlafentzugs, weiß man nicht. Wie lange der Mensch durchhielte, weiß man ebenfalls nicht. Einschlägige Experimente verbieten sich, denn Schlafentzug ist eine Folter. Mit fortdauerndem Schlafentzug wird es aber auch immer schwerer, den Menschen am Schlafen zu hindern. In jedem unbewachten Augenblick verfällt er in einen „Mikroschlaf“ – den bei Autofahrern zu Recht gefürchteten Sekundenschlaf. Mit ihm erklärt sich wohl, warum frühere Schlafentzugsexperimente so geringfügige Folgen zu zeitigen schienen: Sie fanden nicht unter kontrollierten Laborbedingungen statt, sodass die Experimentatoren den Mikroschlaf ihrer Versuchspersonen übersahen.

Im Wachen baut sich auf, was Dement eine „Schlafschuld“ nennt. Sie ist nur auf eine Weise abzutragen: nicht durch Kaffee, nicht durch Amphetamine, nicht durch ein aufregendes Leben, sondern nur durch Schlafen. Dabei muss nicht jede versäumte Stunde in Echtzeit nachgeholt werden: In den tiefen Schlafstadien wird die aufgelaufene Schuld schneller abgetragen. Sie wohl sind jenes „Bad der wunden Müh, der Balsam kranker Seelen, das nährendste Gericht beim Fest des Lebens“, als die Shakespeare, selbst ein großer Insomniker, der Bescheid wusste, seinen Insomniker Macbeth den Schlaf preisen ließ.

Aber warum hat die Natur über alle höheren Tiere regelmäßige Phasen der Bewusstlosigkeit verhängt, denen sie sich nicht entziehen können? Welche Funktion also erfüllt der Schlaf? Die Frage wird nicht einfacher dadurch, dass zwei grundverschiedene „Schläfe“ zu erklären sind, REM und NonREM. So viele physiologische und psychologische und pharmakologische Einzelheiten die Schlafforschung im letzten halben Jahrhundert zutage gefördert hat: Sie weiß es immer noch nicht, ahnt aber, dass sie des Rätsels Lösung nahe ist. Immerhin wurden einige der früheren Theorien widerlegt: etwa dass der Schlaf der Muskelentmüdung, der Energieeinsparung oder schlicht der Ruhigstellung diene. (Das vermutete Hypnotoxin, das Schlafgift, das die Muskeln müde mache, gibt es nicht; Herz- und Atmungsmuskeln arbeiten Tag wie Nacht. Das Gehirn ist das Organ mit dem höchsten Energieverbrauch. Auch schlafende Tiere sind in Gefahr.) Nichts davon ist mit der Tatsache vereinbar, dass der Schlaf eine genau strukturierte Folge aktiver Zustände des Gehirns ist. Des Rätsels Lösung muss im Gehirn selbst gesucht werden.

Eine aussichtsreichere psychophysiologische Theorie ist die, dass während des Schlafs Langzeiterinnerungen „konsolidiert“ (also befestigt) und in das Netzwerk der mentalen Repräsentationen eingebaut werden. Dass man im Schlaf lernen kann, hat sich dagegen als Märchen erwiesen. Experimentell belegt wurde aber unlängst, und zwar von einer Arbeitsgruppe um den Lübecker Neuroendokrinologen Ullrich Wagner, dass im Schlaf tatsächlich Einsichten gewonnen werden können. Die Berichte jener Genies, die behaupteten, auf die zündende Idee buchstäblich im Schlaf gestoßen zu sein – dem Chemiker August Kekulé etwa gab 1865 ein Traum von zwei ineinander verbissenen Schlangen die Struktur des Benzolrings ein – könnten somit durchaus wahr sein. Gerade unterbreitete der amerikanische Psychiater Jerome Siegel eine Theorie, die den Vorteil hat, im Labor überprüfbar und widerlegbar zu sein: Der NonREM-Schlaf diene der Zellreparatur (bei Schlafentzug treten bei Ratten Schäden an der Außenmembrane von Hirnzellen auf), REM (bei dem die Produktion einer Gruppe von Neurotransmittern, der Monoamine, eingestellt wird) verschaffe den Rezeptoren der Hirnzellen eine Erholungspause. Meine persönliche Lieblingstheorie ist die, dass der Schlaf der Kalibration des Gehirns dient: Die Tagesaktivität beansprucht einzelne Funktionen des Gehirns verschieden stark, und damit sich diese verschiedenen Aktivationen einzelner Funktionsbereiche nicht kumulieren, wird in den Tiefschlafphasen, da es im Gleichtakt schwingt, das Gehirn sozusagen auf null heruntergefahren und abgestimmt – um dann im Scheinleben der REM-Phasen ausprobiert zu werden, sicherheitshalber im Zustand der Handlungsunfähigkeit. Wie auch immer: Reparatur und Erholung des Gehirns, das dürfte die lebensnotwendige Funktion des nächtlichen Blackout sein.


So weit: ganz gut.

Gelegentlich schlafen die meisten nicht ganz so, wie sie möchten. Viele meinen darum, sie wüssten, was Schlaflosigkeit ist, und wer Aufhebens von der seinen mache, übertreibe wohl. Diese vermeintlichen Hypochonder liefen dann mit ihren Klagen scharenweise zu den Ärzten, und die verschrieben ihnen bereitwillig jede Menge Schlaftabletten. Alles dies: ein großes Missverständnis. „Schlaflosigkeit“ – schon das ist ein ärgerliches, weil grob irreführendes Wort, denn völlige Schlaflosigkeit gibt es nicht. Wer manchmal nicht genug Schlaf bekommt, weiß so wenig, welche Einbuße an Lebensqualität ein wirkliches, anhaltendes Schlafdefizit oder ein ständiges übergroßes Schlafbedürfnis bedeutet, wie ein zuweilen Bedrückter weiß, was die Depressionskrankheit ist.

Es ist überaus schwierig, sich ein genaues Bild davon zu machen, wie verbreitet wirkliche Schlafstörungen sind, auch nicht die mit Abstand häufigste, die Insomnie (ein chronisches Schlafdefizit). Verwunderlich ist das nicht, denn welche Antworten die Menschen den Epidemiologen geben, hängt ganz davon ab, wie und wonach gefragt wird. So schwanken die Schätzungen zwischen ein paar und 65 Prozent. Die Wahrheit dürfte irgendwo zwischen 25 und 40 Prozent liegen: So viele Erwachsene leiden an zumindest leichter Insomnie, wenn nach den internationalen Kriterien des amerikanischen Diagnosehandbuchs DSM-IV gefragt wird (ein mindestens einen Monat anhaltendes Schlafdefizit, das als schwere Beeinträchtigung empfunden wird). Leichte Insomniker schlafen über einen längeren Zeitraum etwa eine Stunde weniger als der Durchschnitt, schwere Insomniker drei. Am aussagekräftigsten ist vielleicht eine Erhebung des Regensburger Schlafforschers Göran Hajak aus dem Jahre 2001, der nur nach dem Ernstfall fragte. Sie lässt auch internationale Vergleiche zu. Danach leiden 4 Prozent der erwachsenen Bevölkerung unter einer schweren Insomnie, die allermeisten chronisch, ein ganzes Jahr oder länger. Überdurchschnittlich häufig findet sich die schwere Insomnie bei Frauen, getrennt Lebenden, Großstädtern und Arbeitslosen, aber einer verbreiteten Ansicht entgegen nicht bei den über 65-Jährigen. Am höchsten ist der Anteil schwerer Insomniker in Berlin (13 Prozent) und in Sachsen (8), am geringsten in Baden-Württemberg und Thüringen (1 Prozent). Nur gut die Hälfte von ihnen hat ihrer Schlafstörung wegen je einen Arzt konsultiert, und nur 19 Prozent verschreibt dieser ein Schlafmittel.

Vier Prozent – das sind mehrere Millionen, aber die Zahl ist niedriger als die nach den gleichen Kriterien ermittelten in Schweden, Irland und Belgien, und sie ist sehr viel niedriger als in Großbritannien, das mit 22 Prozent völlig aus dem Rahmen fällt. Warum bloß? Was hindert die Engländer am Schlafen? Interessant, welchen Grund für die Diskrepanz Hajak vermutet: dass infolge heftiger Medienkampagnen gegen den Gebrauch von Schlafmitteln Insomnie dort seltener wirksam behandelt wird als anderswo. (Auch Dement ist der Meinung, dass in den Vereinigten Staaten Schlafmittel eher zu selten als zu oft verschrieben werden.) Insofern scheinen die schweren Insomniker in Deutschland besser dran zu sein; sie finden offenbar wirksame Hilfe.

Tatsächlich haben sich in Deutschland die Chancen, bei Schlafstörungen professionelle Hilfe zu bekommen, in den letzten fünfzehn Jahren gewaltig erhöht. Es gibt eine deutsche Schlafforschung, es gibt eine deutsche Schlafmedizin, es gibt eine Gesellschaft für beides, es gibt 270 von ihr approbierte Schlaflabors, in denen der Schlaf nach internationalen Standards untersucht werden kann, es gibt „Schlafschulen“; auch Allgemeinärzte sind über den Schlaf heute besser informiert und zucken nicht mehr nur hilflos die Achseln.

Das gilt besonders für eine Schlafstörung, auf die man überhaupt erst in den letzten zwanzig Jahren aufmerksam geworden ist: die „Apnoen“ genannten kurzen Atemstillstände während des Schlafs, zehn bis fünfzehn pro Stunde, die den Schlaf auf eine lebensbedrohliche Weise zerrütten können. Betroffen sind über dreimal so viele Männer wie Frauen, etwa vier Prozent; viele von ihnen schnarchen und sind übergewichtig. Ihr Fall ist heute längst nicht mehr so hoffnungslos wie in der vorigen Generation.

Dennoch, auch in Deutschland werden Schlafstörungen noch zu oft verkannt und unzureichend behandelt, und manchem nützt auch die professionellste Hilfe nicht. Aber die wenigen Zahlen, die einen internationalen Vergleich erlauben, lassen den vorsichtigen Schluss zu: In Deutschland wird heute relativ gern und gut geschlafen und geträumt. So sieht es auch die Mehrheit der Landsleute. Von Allensbach im Jahr 2003 befragt, was ihnen Schlaf bedeute, gaben zwar 15 Prozent „Schlafstörungen“ an, 13 „Albträume“, 10 „verlorene Zeit“, 4 „Langeweile“ – 89 Prozent aber „Erholung“, 78 „Gesundheit“, 62 „Abschalten vom Stress“, 56 „Vitalität“, 37 „Frieden“, 35 „angenehme Träume“ und 32 Prozent geradezu „Genuss“. Deutschland, Schlaf, Genuss – eine unverhoffte Trias.


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