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2004/06/20 (03:10) from 217.95.19.28' of 217.95.19.28' Article Number : 128
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Das Fahrrad
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D as F ahr rad
Es gehört niemandem, man kann es nicht dressieren, und es ist bockig wie ein Esel / Eine Erzählung von Martin Mosebach

Ein flüchtiges Phänomen


Da steht ein Fahrrad, an eine Laterne angekettet, wie ich es verlassen habe. Dieser Anblick ist immer neu erstaunlich. Während ich mich auf die Laterne zubewege, frage ich mich gespannt: Wird es noch da sein? Wenn es nach den Naturgesetzen ginge, müsst es weg sein. Einsame Fahrräder an Laternen gekettet sind Magneten. Sie stehen still, aber sie erzeugen fremde Bewegung. Von Fern nähert sich der ausländische Lieferwagen. Die Herren, die ihm entsteigen, haben eine lange Zange dabei. Sie zwackt die Stahlkette durch wie eine Nagelschere den Fingernagel. Manchmal widmen sie sich auch nur den Rändern, danach steht das Fahrrad gerupft da, fast wie das Messer ohne Klinge, dem der Stiel fehlt. Und dann ereignet sich eben doch immer wieder dies Eintreten des Erhofften und Erträumten. Man biegt um die Ecke und da steht das Rad. Da mag die Sonne heute Abend gerne sinken. Sie wird morgen wieder aufgehen.


Fahrräder werden nur von denen besessen, die gerade darauf sitzen. Sie sind den Katzen vergleichbar; wer würde es wagen zu behaupten, dass die Katze, die er gekauft hat, die er ernährt, impfen lässt und bei sich hat, ihm gehört? ¸¸Mein Fahrrad" - das war das Fahrrad unterm Weihnachtsbaum, von warmem Kerzenlicht mit goldenen Glanzpünktchen übersät. Im Weihnachtszimmer, mit einer großen Schleife geschmückt, an der eine Karte mit meinem Namen hing, da gehörte es mir. Als ich es ins Freie brachte, als seine Reifen Asphalt unter sich spürten und Regentropfen sich auf die verchromte Lenkstange setzten, da gab ich es schon deutlich preis. Es war ein schönes Fahrrad, ¸¸mit Gangschaltung", wie das damals naiv hieß, wenn man an die dreißig Gänge moderner Räder denkt. Das Schloss war nur ein kleiner Riegel, der sich zwischen die Speichen schob. Ich stellte es vor dem Kino ab, im blauen Winterlicht, das den Schwarzweißfilm vorwegnahm. Als ich das Kino wieder verließ, war das Fahrrad weg. So lernte ich sein Wesen begreifen. Mein Fahrrad heute gehört mir nicht. Das ist meine List: Was mir nicht gehört, kann mir nicht gestohlen werden. Es hat sich mir zugesellt. Seine Eigentümer hadern miteinander. Wenn es der dumme Zufall will, dass die beiden Menschen, die sich im Eigentum an meinem Fahrrad wähnen, und mein Fahrrad an einem Punkt zusammentreffen, erhebt sich Streit. ¸¸Das Fahrrad gehört der Firma! Ich habe das Fahrrad seinerzeit für die Firma erworben!", sagt die gutturale Schweizerstimme. ¸¸Das Fahrrad wurde seinerzeit zu meinem persönlichen Gebrauch erworben!", sagt die nasale Mecklenburger Stimme. ¸¸Das Fahrrad war nach Auflösung des Arbeitsverhältnisses dem Firmenfundus rückzuübereignen!" - ¸¸Das Fahrrad war durch zahllose Schuldansprüche gegen die Firma bereits konsumiert, restlos aufgezehrt!" - ¸¸Da hätten Sie eine Rechnung aufmachen müssen; das haben Sie seinerzeit versäumt!" - ¸¸Das musste ich überhaupt nicht - das Fahrrad ist implizit und konkludent in mein Eigentum übergegangen!" Inzwischen habe ich sehr behutsam, ohne es metallisch klicken zu lassen, das Schloss geöffnet, habe das Fahrrad sanft zwischen den Herren hindurchgeschoben, mich darauf geschwungen und bin davongefahren. Jetzt spüre ich das Entweichende, das Sich-Entziehende in meinem Fahrrad besonders. Inzwischen ist mir mein Fahrrad zugewachsen, ohne es selbst zu merken. Wie es gerade nötig war, habe ich eines nach dem anderen alle Teile, aus denen es einstmals bestand, austauschen lassen. Eine neue Fahrradkette, neue Schutzbleche, neue Lenkstange und Gepäckträger, ein neuer Sattel. Alt ist nun nur noch die Nummer auf dem Rahmen, die so tut, als sei dies noch dasselbe Rad. Und ist doch das hybrideste Gebilde: im Ganzen fremdes Eigentum, im Einzelnen ganz mein. Merkur mit den Flügelchen an den Sandalen, ein Radfahrer ohne Rad, die Kaufleute und die Diebe beschützend, wird es für mich bewahren.


Fahrrads Eigenwillen


Das Fahrrad ist tot. Stangen, genau genommen Röhren, bilden seinen Leib; und von einem Leib, von fülliger Skulptur kann eigentlich auch gar nicht gesprochen werden. Es ist der armselige, der rationalistische Ersatz des Pferdes und des Esels. Dass viele Leute am Wochenende ihr Pferd in einem Mietstall besuchen und dann auf ausgesuchten Waldwegen spazieren führen, ändert nichts an der Tatsache, dass das Zeitalter des Pferdes untergegangen ist. Das schöne starke Tier, dessen Rücken sichtlich dafür geschaffen ist, dass ein Mensch sich darauf setzt, ist aus der einzigartigen Symbiose mit dem Reiter wieder entlassen. Wie Zentauren fühlten sich die Beherrscher des Pferdewillens. Kann man sich auch einen Fahrradzentauren vorstellen, einen Mensch, dessen Unterleib in eine einem Küchenmixer ähnelnde Apparatur übergeht?


Das Pferd schnaubt und dampft; auch wenn es sich den Absichten seines Herrn anverwandelt und sie gar vorausahnt, ist es immer gegenwärtig. Das Fahrrad kann im Bewusstsein des Fahrradfahrers vollkommen verschwinden. Wenn es lauwarm ist, wenn die Straße sehr glatt ist - hier stehen die Fahrradfahrer in der Schuld der Autofahrer, denn für das Fahrrad allein hätte man niemals das ganze Land mit Betonpisten bedeckt -, wenn keine Hindernisse sich auftun, dann kann es eintreten, dass man das Fahrrad unter sich vergisst. Man fliegt durch die Luft, von einer unsichtbaren Schiene geführt, wie in älteren Inszenierungen Wagners Rheintöchter oder Mozarts Drei Knaben an vom Bühnenbildner verborgenen Seilen, in getarnten Flugmaschinen und kaschierten Schienen durch den Bühnenraum schweben. Aus den jetzt geschmeidig und ohne Mühe ablaufenden Strampelbewegungen ist etwas Weiches, Spielerisches geworden, ein Flossenpaddeln wie im Wasser, die Füße kreisen dort unten zu ihrem eigenen Wohlbefinden herum. Lautlos gleiten Bäume und Häuser vorbei, als würden auch sie auf Schienen von Bühnenarbeitern in die entgegengesetzte Richtung geschoben. Dann ist es Zeit für das Fahrrad, sich in Erinnerung zu bringen.


Selbstvergessenes Gleitfliegen ist die beste Voraussetzung, um das Fahrrad zum Leben zu erwecken. Da liegt ein Schlagloch. Es ist tief; durch die Asphaltdecke und den Schotterbelag führt es zurück zur nährenden alten Erde. Wasser steht darin, trüb die Tiefe verschleiernd. Das Fahrrad saust hinein, es bäumt sich auf, es zuckt in ihm, es haut den Händen den Lenker aus der Hand. Wer darauf gesessen hatte, weiß: Das war nicht das Schlagloch, das war das Fahrrad selbst. Es hat den Reiter abgeworfen wie ein junges Pferd den unerfahrenen neuen Eigentümer. Stürze vom Fahrrad verlaufen unter einem musikalischen Akkord, scheppernd, klingend, dröhnend. In der Stille, während sich der Geschundene mühsam erhebt, läuft an dem liegenden Fahrrad ein Rad zwecklos träumerisch im Kreis. Das Fahrrad ist bei sich. Jetzt lebt es.


Wenn es dunkel wird, leuchtet der kleine Scheinwerfer heller und dunkler werdend, wie von einem schlagenden Herzen angetrieben. Wer viele Gänge hat, kennt das Schnurren, das aus dem Fahrrad nach oben steigt, ein sanftes Motorengeräusch, aber längst nicht so monoton, organisch eben. Der stramm aufgepumpte Reifen ist ein trainierter harter Muskel; wenn die Luft entweicht, wird er schlaff und atrophisch, eine kränkliche Natur, die sich stolpernd und wund über die Pflastersteine schleppt. Heimtückisch sucht das Fahrrad gegen den Willen des Menschen Straßenbahnschienen und andere Rinnen. Da will es hinein und wenn es drinnen ist, macht es wieder seinen berüchtigten großen Sprung. Niemandem ist es lange gelungen, in einer Straßenbahnschiene das Fahrrad aufrecht zu halten, denn ein Fahrrad kann man nicht dressieren.


Das subversive Fahrrad


Ist es möglich, auf einem Fahrrad würdevoll und wie ein ernst zu nehmender Mensch zu wirken? In der Bernanos-Verfilmung von Robert Bresson schiebt der lungenkrebskranke jugendliche Landpfarrer in der regenschweren Soutane ein übergroß wirkendes schwarzes Fahrrad den Hügel mit den verkrüppelten kahlen Apfelbäumen hinauf - da ist das Fahrrad wie ein der Heiligenstatue beigegebenes Folterinstrument, ein ikonographisches Attribut. Im ¸¸Chien andalou" von Dalì und Bunuel fährt im harten Sonnenlicht ein schwarzer Mann auf einem schwarzen Rad und wirft einen gefährlichen schwarzen Riesenschatten. Hier ist das Fahrrad von surrealistischer Bedrohlichkeit erfüllt, immer untragisch, geheimnislos, provinziell. Wenn man in Lexika und alten Enzyklopädien alle möglichen Erfindungen und Apparaturen geschildert sieht, mit den bewunderungswürdigen technischen Holzstichen illustriert, Zeugnisse eines halb verblendeten, halb genialen Bastler- und Erfindertreibens, das vor hundert Jahren die Patentämter beschäftigte, dann ist man nah an der verstaubten Kauzigkeit, die immer auch irgendwie am Fahrrad haftet. Die verlöteten Gestänge, die Pedale, die spielzeughafte Klingel, das sind alles Details, die man sich vom Erfinder regelrecht vorgeführt vorstellen kann, mit dem ganzen Stolz, den auch eine neuartige Rattenfalle, ein noch nie gesehener Petersiliezerkleinerer, eine Nordpolleselampe in ihm erzeugen würde. Etwas von Pedalen im Schwung Gehaltenes ist ohnehin stets leicht lächerlich. Da gab es die Nähmaschine mit ihrem schweren gußeisernen Tisch. Oben beugte sich die Näherin konzentriert und still über die Naht; es war ein Bild der Stille und des Friedens, der ¸¸Spitzenklöpplerin" des Vermeer vergleichbar. Und nun der Blick in die Kelleretage unter die Platte des Arbeitstisches: Da wurde getrampelt. Der Frieden oben trog. Das Werk wurde gar nicht mit Auge und Hand, und das heißt: mit dem Geist geleistet, sondern mit den Waden. Man stelle sich die ¸¸Spitzenklöpplerin" pedalentrampelnd vor! Der Zauber des Bildes wäre zumindest gefährdet. Beim Tretboot ist es noch deutlicher. Rudern ist kraftvoll, männlich, eine würdige Tätigkeit. Treten ist komisch. Hans-Jürgen und Inge fahren am Sonntag Tretbötchen auf dem Main. Wir sehen die unbewegten Oberkörper des Paares büstenhaft starr an uns vorübergleiten, wie von Zauberhand nach vorn gezogen. Unter ihnen bewegt es sich, aber sie scheinen die Bewegung zu ignorieren. Es ist, als hielten sie mit ihrem Trampeln nicht nur das Boot, sondern auch sich selbst, ihr Lächeln, mit dem sie zum Ufer hinüber grüßen, und ihre paarige Zusammengesperrtheit in Gang, als stockte nicht nur die Fahrt des Bötchens, sondern als sänken sie selbst in sich zusammen, wenn sie zu trampeln aufhörten. Auch Klaviere gibt es zum Treten. Die gestanzte Rolle ist von Paderewski eingespielt worden; jetzt wird sie eingelegt, der Beweger nimmt auf dem Klavierhocker Platz, trampelt die Pedale, und die Rolle beginnt sich abzuspulen und die Tasten senken sich wie von Geisterhand gedrückt und himmlische Musik erklingt, während es zugleich vom Trampeln rhythmisch knarrt und rumpelt. Das Pianola ist eine Radtour durch die Impromptu-Gebirge und Berceusen-Täler des Chopin.


Und nun stelle man sich den Bizyklisten vor. Früher war manchmal vom ¸¸Affen auf dem Schleifstein" die Rede, als die Messerschleifer mit ihren gleichfalls pedalbetriebenen rund schwingenden Schleifmaschinen noch unterwegs waren. Das Rhesusäffchen im roten Frack, das sich mit anklagendem Tierblick an einem solchen runden Stein anklammert - ist es nicht in Körperhaltung und verkorkster Ausgeliefertheit dem tief über seine Lenkstange gebeugten, das Hinterteil in die Lüfte streckenden Radfahrer zutiefst verwandt? Der Mensch als sein eigener Galeerensklave an ein Räderwerk gefesselt, das umfällt, sobald er zu strampeln aufhört - da wird ein Wort wie ¸¸Menschenwürde" unversehens zu einem drolligen Begriff.


Die Schule ist aus


Das Fahrradfahren wird für mich nach Jahrzehnten, in denen ich zu jedem Wetter und zu jeder Jahreszeit durch immer dieselben Straßen gefahren bin, im Traum oder in assoziierenden Zuständen nur mit einem Bild verbunden bleiben: Die Schule ist aus; es ist ein erstickend heißer Tag, der Asphalt schmilzt und bricht an manchen Stellen als schwarzes Pech aus der Straßendecke hervor. Der Aufenthalt im Klassenzimmer war eine Qual. Aber es war nicht die Hitze, die ihn unerträglich machte. Das war die Zeit des schlimmsten Schulbubengrauens, wo das ¸¸Nixtun" und ¸¸Nixlernen", wie Heimito von Doderer den entsprechenden Zustand in seinem eigenen Leben beschreibt, einen schier albtraumhaft schweren und hohen Berg von Schuld und Versagen aufgetürmt hat. Man hat so viel gemogelt, so viel geschwänzt, verschlafen, nicht zugehört, dass die entstandenen Lücken wahrscheinlich nicht mehr aufzuholen sind. Jetzt fordert jeder Tag einen Offenbarungseid. Man rangiert jetzt in der Klasse ganz hinten, bei denen, die in ihrem Versagen, schon gar nicht mehr so richtig fröhlich, vor sich hin verfaulen. Eine Arbeit ist zurückgegeben worden. Sie ist ganz schlecht, man ist vom Pech der Schuld und der Vorwürfe ganz und gar beschmiert. Jetzt fällt es bereits auch schwer, die Unbefangenheit gegenüber den Mitschülern zu bewahren. In das freche Gesicht, das man macht, mischt sich etwas Gezwungenes. Über dem Schulhof steht die Hitze wie ein Block; wenn man da hineintaucht, wird die Schuld, die man geradezu auszudünsten meint, noch eng am Körper gehalten, sie kann nicht abziehen. Und dann besteigt man das Fahrrad. Die Schule lag an einem Abhang. Das war ein Gefälle, das ein Fußgänger kaum spürt. Wie eine Stadt geologisch beschaffen ist, weiß nur der Radfahrer. Manche Straßen sehen ganz eben aus, aber man rollt sie hinab, ohne einmal auf die Pedale zu treten. Die Straße neben meiner Schule war eine Allee, die von Pappeln eingerahmt war. Hinter der dichten Pappelfront schaute die Ecke eines avantgardistischen Palastes aus den zwanziger Jahren hervor. Das gab der Vedute etwas magisch Modernes, gleichsam altertümlich Fortschrittliches. Und in diese eingefrorene Zukunftsgewandtheit stürzte ich mich auf meinem Fahrrad. Die Straße war schnurgerade und lang und in kürzester Zeit bekam das Fahrrad eine hohe Geschwindigkeit. Mein Hemd war halb aufgeknöpft, der Fahrtwind blähte es auf, der Schweiß auf der Stirn kühlte ab. In dieser sausenden Fahrt an den Pappelreihen entlang fiel die gesamte Miserabilität der vorangegangenen Stunden von mir ab. Die Geschwindigkeit erzeugte ein Triumphgefühl. Obwohl durch meine eigene Schuld alles so unausdenklich schrecklich war, erlebte ich jetzt das reine Glück. Das konnte mir niemand, nicht einmal ich selbst, mir rauben. Es gab meine Lebensgeschichte mit ihrer immer bedrohlicher werdenden Kausalitätenkette, aber daneben und dazwischen gab es die Augenblicke der vollkommenen Freiheit. Am Anfang war das Glücksgefühl noch mit Trotz gemischt. Ich sauste den Berg hinunter, obwohl ich gerade überaus blamabel getadelt worden war, also zu Lebensüberschwang wahrlich kein Recht hatte. Aber dann verschwand dieser unreine Rest, der mich mit dem Vormittag verband, er war aufgelöst und weggeweht. Dieses Rasen an der vergangenen Zukunft vorbei im Lichtschatten der zahllosen Pappelblättchen war, der Geschwindigkeit zum Trotz, ein stilles Heraustreten aus der Zeit. Wenn ich am Ende der Straße dann um die Ecke bog und zu Treten anfangen musste, hallte das schöne Gefühl noch eine ganze Weile nach, es blieb stark, solange ich im Schatten der Kastanien fuhr, die hier die Pappeln ablösten.


Martin Mosebach ist Schriftsteller und lebt in Frankfurt. Zuletzt erschien von ihm ¸¸Häresie der Formlosigkeit".


Quelle: Süddeutsche Zeitung
Nr.139, Samstag, den 19. Juni 2004 , Seite 107

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