DW AltaVista Translation


2004/06/22 (08:06) from 80.139.186.189' of 80.139.186.189' Article Number : 136
Delete Modify Zeit Access : 1004 , Lines : 59
Know-how für alle!
Know-how für alle!

Wissen ist eine wertvolle Ressource. Wird sie nicht gepflegt, geht alles schief. Also lechzt die Welt nach "Wissensmanagement". Aber wie funktioniert es?

Gero von Randow

"Wissen hält nicht länger als Fisch"

(Alfred North Whitehead)

Alltag in der Wissensgesellschaft: Dem Produktentwickler ist unbekannt, dass ein Firmenkollege aus Übersee am gleichen Problem arbeitet; Kindertagesstätten kennen die Probleme der benachbarten Schule nicht und das Sozialamt nicht die des Arbeitsamtes; Manager reden von Netzökonomie und haben noch nie an den Newsgroups ihrer Mitarbeiter teilgenommen; die Statistiker in der Marktforschungsabteilung erfahren nichts von den neuen Statistikprogrammen, die in der Konstruktionsabteilung eingesetzt werden.
Wenn eine gerade benötigte Informationsquelle nicht angezapft werden kann, fällt alles trocken: Mal weiß keiner, ob es die Quelle gibt, mal keiner, wo sie liegt, oder keiner kennt den Schlüssel, Codiertes zu lesen. Kein Wunder, dass "Wissensmanagement" zum Werbeslogan der Organisationsberater wurde. Subtext: Effizienz kann man kaufen. Wie Wellness.

Das kommt an. Amazon bietet 59 Buchtitel zum Thema. Aber wehe dem, der sich dieser Wälzerware nähert. Ihn erwartet kaum Konkretes. Und schon gar nicht eine Antwort auf die Frage: Was ist das eigentlich, Wissen? Das heißt, es gibt sogar sehr viele Antworten, aber gleich dermaßen viele, dass wir lernen: Eine anerkannte Definition existiert nicht.

Na und? Schließlich kann auch niemand allgemeingültig angeben, was das Wort "Energie" bedeutet. Die Physik bietet zwar Formeln, die sehr wohl einen Sinn ergeben, aber doch stets nur im konkreten Fall. Energie lässt sich gewinnen, speichern, abgeben und so weiter, lässt sich sogar berechnen, nur eben nicht in abstracto definieren. Doch kein Physiker stört sich daran - Hauptsache, die Formeln funktionieren besser als, sagen wir: die Londoner U-Bahn. Dort wurden kürzlich mehrere Rolltreppen an den wichtigsten Umsteigebahnhöfen gestoppt, was zu Unannehmlichkeiten führte. Man hatte Risse in einigen Verstrebungen entdeckt. Das Problem war: Niemand wusste mehr, wozu diese Verstrebungen gut waren. Es blieb nur noch, die Rolltreppen komplett auszutauschen. Ein typischer Fall. Das Wissen verschwindet. Irgendjemand hat es mitgenommen.

Aber gibt es solche Probleme nicht von alters her? Zugegeben, das stimmt. Nur eben: Auf das Maß kommt es an. Akteure in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft benötigen heute weitaus mehr Wissen als in den vordigitalen Zeiten; Wissen ist der kritische Faktor geworden. Nehmen wir das Militär: Moderne Aufklärungsmittel machen den Gefechtsraum transparent; "überraschende Aktionen sind nur noch nach Gewinnen der Informationsüberlegenheit denkbar" - so formuliert es das Fachjournal Soldat und Technik. Zu den klassischen Faktoren "Feuerkraft und Bewegung" gesellt sich, kampfentscheidend, das Wissen.

Oder nehmen wir einen Klassiker der Hardware: Trecker. Die amerikanische Firma Massey-Ferguson stellt seit 1847 landwirtschaftliche Geräte her; vor acht Jahren rüstete sie ihre Traktoren mit GPS-Empfängern aus, außerdem mit optischen und Feuchtigkeitssensoren, die "High Precision Farming" erlauben: hoch genaue Landwirtschaft. Irgendwo auf dem Hof installiert der Landwirt seinen Agrarrechner, und indem er auf dessen Touchscreen herumtippt, erfährt er die aktuellen Erntemengen und Bodeneigenschaften, sodass er Quadratmeter pro Quadratmeter optimale Aussaat- und Düngemittelmengen bestimmen kann. Er braucht die Werte nur noch an seine Traktoren weiterzugeben. Mittlerweile gehört die Beratung für dieses "Ertragsmanagement" zum Kerngeschäft des Unternehmens - Massey-Ferguson ist ein Wissensdienstleister.

Köche schreiben Bücher und veranstalten Lehrgänge, Kriminalpolizisten beraten Hausbesitzer, Nahverkehrsunternehmen stellen vollautomatisierte Routenplaner ins Netz. Das, was Institutionen produzieren, seien es Gesetze, soziale Hilfe, Waren oder Service, besteht heute zunehmend, oft sogar überwiegend aus Wissen. Und neben die klassischen Organisationsformen (Abteilungen, Ressorts, Referate) treten Projektteams, die auf Zeit zusammengesetzt werden - also muss die Führung wissen, über welches Know-how jeder Mitarbeiter verfügt. Als bei der Dasa in Hamburg-Finkenwerder Mitarbeiter gefunden werden mussten, die man zum Airbus-Werk nach Toulouse entsenden konnte, fiel jemandem ein, dass ein Kollege sich in seiner Freizeit für den deutsch-französischen Jugendaustausch engagiert. Also wurde ihm angeboten mitzureisen.
Wer untersucht, wie eine Institution ihr Wissen nutzt, stößt allerdings auf heikle Themen: Wie sehen die heimlichen Hierarchien, Seilschaften, Routinen, Traditionen aus? Hier lauern Tretminen. Also atmet das Management überrascht auf, wenn ein Berater daherkommt: Oh, es gibt eine technische Lösung. Umgehend wird Software eingekauft. Und ein paar neue Computer.

Das kann nicht gut gehen. Man sehe sich nur die weithin anzutreffende Methode an, wie Intranets eingeführt werden, also interne Kommunikationssysteme auf der Basis von Internet-Protokollen. Intranets sind eigentlich eine gute Sache. Sie erleichtern den Austausch, die Speicherung und Pflege von Wissen. Doch entgegen aller Erfahrung werden sie auch heute noch von Computerfuzzis ausgetüftelt und sodann den Mitarbeitern auf den Bildschirm geklatscht: Nun kommuniziert mal schön. Und dann wundert sich noch jemand, dass das Intranet zur Müllkippe wird, auf der Informationen, Meinungen, Tipps und Termine vor sich hin gammeln, die irgendwann, vor Monaten vielleicht, ein Optimist eingegeben hatte? Hier waren wieder Technokraten am Werk, die nicht wahrhaben wollten, dass ein Informationsnetz erstens aus Menschen besteht, zweitens aus Menschen und drittens aus Menschen. Viertens aus Verabredungen. Fünftens aus Maschinen.

Positive Beispiele gibt es auch, etwa im ehemaligen Büromaschinenkonzern IBM, dessen Entwickler via Newsgroups und andere elektronische Foren kommunizieren; es werden sogar eigens Mitarbeiter dafür eingesetzt, diese Systeme gleichsam als Wissensredakteure zu betreuen. Sie legen beispielsweise FAQs an, also jene aus dem Internet bekannten Listen von Frequently Asked Questions, mit deren Hilfe ausgetauschtes zu allgemein zugänglichem Wissen wird. Wissensredakteure sind auch dort notwendig, wo ein rechnergestütztes Gedächtnis der Organisation aufgebaut wird. Zwar gibt es bereits Programme, die Dokumente gut nach Inhalten klassifizieren und ordnen können, aber ohne menschliche Intelligenz bleiben solche Systeme Stückwerk. Der Beraterkonzern Arthur Andersen beschäftigt daher Dutzende von Redakteuren, die allen Mitarbeitern die Lehren aus Beratungsprojekten zur Verfügung stellen.

Allerdings: Wissen ist Konkurrenzvorteil, und wo jeder gegen jeden kämpft, gibt niemand aus eigenem Antrieb Wissen weiter. Darunter leidet die Effizienz. Wissen lebt von Weitergabe, Rekombination, gemeinschaftlicher Umsetzung. Hier helfen keine Appelle, man muss vielmehr die Anreize verändern. Wer Wissen teilt, muss dadurch Vorteile erzielen. Etwa das gestiegene Ansehen, weil der Teamchef öffentlich den lobt, der Informationen weitergibt. Finanzielle Anreize wirken ebenfalls Wunder. Bei Arthur Andersen ist jeder Berater gehalten, täglich eine Viertelstunde Wissen weiterzugeben - eine Leistung, die bewertet wird.

Spätestens an dieser Stelle muss die Erfolgsstory der Firma Think Tools erzählt werden; ein Unternehmen mit zehn Beschäftigten und einem Börsenwert von zweieinhalb Milliarden Mark. Es wird auch deswegen hoch geschätzt, weil es als einer der wenigen Newcomer an der Börse nicht nur Verluste, sondern deftige Gewinne einfährt. Albrecht von Müller, ein promovierter Philosoph, hat es vor vier Jahren gegründet und begeistert mit seinen Produktideen mittlerweile Kunden wie Zürich Financial Services, Partner wie die Beratungsfirmen Bain & Company oder Arthur D. Little, Shareholder wie Klaus Schwab, Chef des Weltwirtschaftsgipfels in Davos.

Think Tools bietet Produkte zweierlei Art: Werkzeuge für Kooperation und für Strategiebildung. Nun gibt es zwar seit eh und je Computerprogramme wie Lotus Notes und andere, die es erleichtern, Wissen weiterzugeben und im Team zu nutzen. Think Tools indes stellt nicht nur ein Format bereit, in dem der Benutzer Wissen einspeichert, auf das alle Mitarbeiter zugreifen können, sondern erleichtert auch die systematische Auswertung. Wer eines der vom Kollegen verfassten Dokumente ansieht, kann es erst wieder verlassen, wenn er es benotet hat - nach den Kriterien Präzision, Relevanz, Originalität. Aus den Zensuren wird ein Ranking errechnet, das es erlaubt, das Gehalt der Mitarbeiter an die Menge und Qualität ihrer Beiträge zum gemeinsamen Wissen zu koppeln.

Wissensmanagement funktioniert nur dort, wo Teamarbeit zum Alltag gehört

Was aber, wenn sich Evaluationskartelle bilden nach dem Motto "Du lobst mich, ich lobe dich"? Kein Problem, sagt von Müller, "wir schalten ein neuronales Netz auf die Software, das erkennt, wenn sich solche Kartelle bilden". Der alerte Bayer hat noch ein zugkäftigeres Argument parat: "Schummeln kostet Zeit." Das ist wahr. Erstens funktioniert die Bewertungsfunktion nicht sofort, also bleibt das Dokument eine Mindestzeit auf dem Bildschirm, und zweitens ist es mühevoll, ein solches Schummelkartell aufzubauen und unentdeckt zu halten.

Das zweite Produkt von Think Tools ist der Werkzeugkasten für die Strategiebildung. Zugrunde liegt die Beobachtung, dass Strategiediskussionen allzuoft intransparent und unterkomplex sind. Intransparent, weil vieles ungesagt bleibt und allenfalls stumm verhandelt wird; unterkomplex, weil kein Management, und schon gar nicht unter Zeitdruck, über das komplexe Zusammenspiel von Zielen, Bedingungen, Ursachenketten und Rückwirkungen rein sprachlich kommunizieren kann. "Das geht nur mit Visualisierung", sagt Albrecht von Müller, der mit seiner Software bereits Strategiesitzungen der Regierungen von Südafrika, Polen und anderen Ländern moderiert hat und ebenso Gespräche in Vorständen großer Firmen. Jüngst half er sogar im Bundeskanzleramt aus, damit sich die Berliner Reformstrategen einen Überblick über ihre Ziele, Prioritäten und Probleme verschaffen konnten.

Vorzugsweise hält der charismatische Think-Tools-Chef die Strategiesitzungen in seiner Dependance in Cap d'Antibes bei Nizza ab, einer geräumigen Villa mit Urlaubsflair, in der allenfalls der Laptop und die von ihm gesteuerte Projektionswand an Arbeit erinnern. Eine typische Runde beginnt damit, dass die Teilnehmer Ziele diskutieren und jedem Ziel einen Relevanzwert zwischen null und neun zuordnen. Anschließend werden Wechselbeziehungen zwischen den Zielen diskutiert, und auch diese Abhängigkeiten werden zahlenmäßig bewertet. Aus den Daten konstruiert die Software sodann einen mehrdimensionalen Grafen, also ein mathematisch definiertes Netz: Dessen Knoten repräsentieren die Ziele, und die Länge der Strecken steht dafür, wie gut die Ziele zueinander passen.
Dieses Knäuel lässt sich nicht mehr anschaulich ins Bild setzen, deshalb testet die Software mehrere Möglichkeiten, das Gebilde auf drei Dimensionen zu projizieren, bis sie eine gefunden hat, die einigermaßen überschaubar und dennoch realistisch ist. Mit dem nun entstandenen 3-D-Netz dürfen die Teilnehmer herumspielen, bis sie das Gefühl haben, ihre Ziele vernünftig definiert zu haben.

In diesem Stil geht es weiter; Think Tools bietet etliche solcher Werkzeuge an, die den Strategen klarmachen, was sie da eigentlich diskutieren. Die Software errechnet auch die Handlungsspielräume: Wann kann zu welchen Kosten die Strategie gewechselt werden, wo droht eine Sackgasse, welche Strategien sind robust gegen unvorhergesehene Änderungen der Bedingungen? Das Ganze ist nicht ohne Vorbild; schon seit den späten Siebzigern gibt es Programme zur Tabellenkalkulation und zur Entscheidungsfindung, die den Einfluss einzelner Größen auf Gesamtergebnisse zeigen. Doch seither haben Computerpower und Programmierung erhebliche Fortschritte gemacht, von denen Think Tools profitiert.

Gewiss, eine Schwäche liegt darin, dass die Teilnehmer ihre Bewertungen und Vermutungen in Ziffern umsetzen müssen, worin einige Raterei steckt. Andererseits lassen sich diese Zahlenwerte jederzeit ändern, sodass auch gezeigt werden kann, welche Schätzwerte wirklich relevant sind, wo also die Risiken stecken, die auf Unwissen beruhen.

Von Müller ist Philosoph genug, um zu wissen, dass Software allein nicht zum Erfolg führt. Sie kann der Kommunikation und der Pflege von Wissen nur dann dienen, wenn sie von einer Gemeinschaft eingesetzt wird, für die Teamarbeit und Offenheit zur Grundregel geworden sind. Wenn Mitarbeiter eines Unternehmens Angst vor Karriereknick oder Entlassung haben, wird es dort kein effizientes Wissensmanagement geben.

Dies zeigt sich regelmäßig bei der Einführung von Gelben Seiten des Wissens. Das ist eigentlich eine gute Idee: Jeder Mitarbeiter notiert seine Kenntnisse und Fertigkeiten im Intranet; die Einträge werden sodann nach Sachgebieten geordnet. Nun kann sich das Management ein Bild des verfügbaren Wissens machen, die Personalabteilung kann mit Suchmaschinen Kandidaten für bestimmte Jobs herausfiltern, und die Kollegen können Kooperationspartner finden. In der Pharmafirma Hoffmann-LaRoche wurde auf diese Weise das weltweit verteilte biochemische und medizinische Wissen besser zugänglich gemacht. Doch zu Beginn eines Pilotprojektes bei der Airbus GmbH in Hamburg-Finkenwerder zeigten sich die Mitarbeiter zunächst zögerlich: "Wenn ich in das System eingebe, was für eine Niete ich bin, dann schmeißen die mich doch raus"; andere fürchteten um ihr Ansehen unter den Kollegen, weil sie unter "Softwarekenntnisse" nicht "Word" eingeben konnten.

Klaus Steinfatt, damals Wirtschaftsinformatiker an der Technischen Universität Hamburg-Harburg, erinnert sich daran, dass der Aufbau von Vertrauen die schwierigste Aufgabe war, viel zeitaufwändiger und teurer als die Installation der Technik. Wichtiger als alle Computerkästen, meint Steinfatt, bleiben Bedingungen, unter denen ungezwungen kommuniziert und auch gespielt werden darf. Wichtiger ist das gelebte Prinzip, dass die Mitarbeiter nicht Ausführende, sondern die gemeinschaftlich Handelnden der Institution sind; das Vertrauen, das den Mitarbeitern geschenkt wird, und die emotionale Zuwendung der Führungsgruppe zur Mannschaft.

Noch immer gibt es Technokraten, denen das alles zu weich klingt. Diese Leute werden lernen müssen: Wissen ist weich. Es ist eine soziale Größe.


(c) DIE ZEIT 2000


Backward Forward Post Reply List
http://theology.co.kr