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2004/06/22 (08:09) from 80.139.186.189' of 80.139.186.189' Article Number : 137
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Die Sprache ist das Licht der Welt
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Die Sprache ist das Licht der Welt

Zum Tod von Hans-Georg Gadamer: Schüler, Freunde und Wegbegleiter erinnern sich an das Werk und das Wirken des bedeutenden Philosophen. Würdigungen von Charles Taylor, Gianni Vattimo, Richard Rorty, Jürgen Habermas, Albrecht Wellmer und Rüdiger Bubner


Gadamer gehört zu der kleinen Gruppe von Philosophen des 20. Jahrhunderts, an die man sich lange erinnern wird, weil sein Werk außerordentlich fruchtbar ist. Er hat neue Pfade innerhalb der Philosophie beschritten, Pfade, die wir noch lange weiterverfolgen werden. Ohne dass er das Thema selbst direkt benannt hätte, legte er den philosophischen Grund für eine der wichtigsten Anstrengungen des 21. Jahrhunderts: andere Kulturen in ihrer Tiefe zu verstehen. Gadamers Problem war das Verstehen von Texten, insbesondere von solchen, die aus der Vergangenheit stammen. Aber die Vergangenheit ist in dieser Hinsicht nur eine unter vielen Regionen, und Gadamer hat uns damit gelehrt, auch das zeitgenössische Andere zu verstehen.

Eine weitere bahnbrechende Idee, die wir Gadamer verdanken, ist die der Sprachlichkeit, also die Art und Weise, wie menschliches Leben sich nicht nur ausdrückt, sondern von der Sprache geformt wird. Und daraus folgend die Einsicht, dass Sprache in erster Linie Gespräch ist. Gadamer hat dafür die gesamte philosophische Tradition aufgerufen. Vor allem aber hat er uns bestimmte deutsche Quellen erschlossen, zumal solche aus der Blüte der Philosophie und der Kritik im späten 18. Jahrhundert. Dank Gadamer ist die Stimme jener Autoren für uns heute noch vernehmlich. In diesem Augenblick, in dem wir Lebewohl sagen, erkennen wir das ganze Ausmaß unserer Verpflichtung gegenüber Hans-Georg Gadamer. Charles Taylor

Charles Taylor ist Professor emeritus für Philosophie an der McGill-Universität, Montreal/Kanada. Aus dem Englischen von Thomas E. Schmidt
Er war einer der wenigen Philosophen des 20. Jahrhunderts, der eine im akademischen Sinn "technische" Philosophie entwickeln konnte, die - wie wenige andere - in der großen abendländischen Tradition verwurzelt war und die doch gleichzeitig die einfachen Menschen ansprechen konnte. Gadamers Denken war tatsächlich, mit Hegel gesprochen, die "Zeit in Gedanken" gefasst. Seine Hermeneutik ist die Philosophie der gegenwärtigen Existenz, und der Mensch unserer Zeit kann sich in seiner Philosophie wiedererkennen. "Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache", lautete ein berühmter Satz Gadamers, was aber nicht bedeutet, dass es ein Sein unabhängig von dem gibt, was uns in der Sprache begegnet.

Diese Gleichsetzung von Sein und Sprache - die Gadamer von Heidegger übernimmt - trifft sehr genau unsere heutige Lage. Auf der einen Seite besteht die Welt, in der wir leben, aus einem immer dichter werdenden Netz aus Informationen und Nachrichten; dass Erfahrung nie "unmittelbar" ist, kommt uns heute auf wahrhaft dramatische Weise zu Bewusstsein. Alles ist Interpretation, und Wahrheit ist nur das, über das sich die Interpreten einig sind. Auf der anderen Seite bietet die "Reduktion" der Wirklichkeit auf Sprache die einzig denkbare Perspektive auf Emanzipation und Humanisierung der Welt - die Umwandlung von "Natur" in Kultur, in Dialog, Konsens, Zustimmung und Intersubjektivität.

Das ist es, worauf Gadamers Lehre des Verstehens beharrt: auf der Verwandlung von primitiver Äußerlichkeit, einschließlich Krankheit und Elend, Tod und Gewalt, in Sprache und Kultur. Auch unter politischen Gesichtspunkten ist diese Philosophie enorm aktuell. Sie setzt nämlich Verständigung und Dialog gegen den autoritären Anspruch auf absolute Wahrheit; sie öffnet uns die Augen für einen gefährlichen Naturalismus, der auf der politischen Bühne große Konjunkur hat. Denn nicht nur der Rassismus ist ein Naturalismus; auch das blinde Vertrauen in die unsichtbare Hand des Marktes und vor allem die Idee, dass "natürliche" Ungleichheiten genutzt werden sollten, um "Entwicklung" durch Wettbewerb zu fördern, ist eine Art Naturalismus. Es war Gadamer, der uns gezeigt hat, dass solche Ungleichheiten zu jenen scheinbaren Objektivitäten zählen, die wir verwandeln müssen: in Sprache und Kultur, in eine Gesellschaft der Solidarität. Gianni Vattimo

Gianni Vattimo lehrt Philosophie an der Universität Turin und hat Gadamers Werk in Italien einem breiten Publikum vertraut gemacht. Aus dem Italienischen von Antonella Romeo
Horizontverschmelzung ist der Begriff, mit dem der Name Hans-Georg Gadamer auf immer verbunden sein wird. Er gebrauchte dieses Wort, um einen Prozess zu beschreiben, in dem zwei Dichter, zwei Philosophen, zwei Kulturen oder zwei Epochen auf eine bestimmte Weise zusammenkommen: Sie werden weder als unversöhnlich noch als Spezies derselben vertrauten Gattung behandelt, sondern als solche, die trotz ihrer irreduziblen Verschiedenheit in eine fruchtbare Verständigung miteinander eintreten können.

Die Fähigkeit zu dieser hermeneutischen Versöhnung bildet eine wesentliche Voraussetzung dafür, eine urbane und kultivierte Persönlichkeit zu werden. Um ein großes Vorbild für diese beiden intellektuellen Tugenden zu sein, so wie Gadamer es war, muss man wie er starke Wissbegier mit großem Selbstvertrauen und romantische Begeisterung mit intellektueller Großmut vereinen. Die Kombination dieser Eigenschaften befähigte Gadamer, sich leidenschaftlich in ein neu entdecktes Buch zu verlieben, ohne sich jemals völlig davon bekehren zu lassen und zu einem Epigonen zu werden.

Seine Fähigkeit, sich vom Genius ergreifen zu lassen, ohne davon überwältigt zu werden, wurde besonders deutlich bei dem, was Jürgen Habermas mit wunderbarer Treffsicherheit als Gadamers "Urbanisierung der Heideggerschen Provinz" bezeichnet hat. Gadamer, der seine Jugend in einer palladianischen Villa verbracht hatte, wurde einer der engsten Freunde und sorgfältigsten Interpreten von Heidegger, einem verschlagenen, lügenden, der Selbsttäuschung erlegenen Bauernkind, das in einer Atmosphäre ländlicher Idiotie und Bigotterie aufgewachsen war. Gadamer begriff schnell, dass sein Freund trotz allem der originellste und interessanteste philosophische Kopf seiner Zeit war.

Gadamer half uns, Heidegger nicht so zu lesen, wie Heidegger selbst gern gelesen werden wollte, nämlich als der erste westliche Denker, der außerhalb der Abfolge Platon/Nietzsche steht, sondern vielmehr als jemanden, dessen Horizonte gewinnbringend mit denen von Hegel und Platon verschmolzen werden konnten. Gadamer behandelte Heidegger so, wie Heidegger selbst Nietzsche behandelt hatte - er ignorierte seinen Anspruch, etwas vollkommen Neues unter der Sonne zu sein, und behandelte ihn einfach als einen weiteren großen Philosophen. Gadamer tat sein Bestes, um Heidegger in eine Verständigung mit seinen Vorgängern und möglichen Nachfolgern einzubinden und ihn dadurch ziviler werden zu lassen.

Gadamer gekannt zu haben heißt, gesehen zu haben, was intellektuelles Leben im Westen darstellen kann, wenn es zur Gänze gelebt wird. In vielen Ländern - besonders in den USA, wo Gadamer viel Zeit verbrachte - fühlten sich seine Studenten und Kollegen durch Gespräche mit einem Mann, der lebhaft all das verkörperte, was an der humanistischen Tradition Europas am wertvollsten ist, in hohem Maße bereichert. Richard Rorty

Der Philosoph Richard Rorty ist Professor für Literaturwissenschaft an der Universität Standford/USA. Aus dem Englischen von Karin Wördemann
Sein 90. Geburtstag war das letzte in der Reihe dieser beinahe platonisch-freundschaftlich gestimmten Treffen. Oft hatte sich die Profession aus ähnlichem Anlass in der Alten Aula der Heidelberger Universität um Gadamer versammelt. Natürlich war er der Mittelpunkt auch des festlichen Anlasses und seines Alters wegen. Aber eher noch machte ihn die in Jahrzehnten erworbene, mit großer Selbstverständlichkeit von allen Seiten anerkannte Autorität, die der Jubilar selbst genoss, ohne je auf sie gepocht zu haben, zum natürlichen Mittelpunkt eines Familientreffens, zu dem wir alle gern kamen, um einander wiederzusehen. Gadamer verkörperte auf angenehm unauffällige Weise etwas von der Art nichtbezwingender, aber zwanglos wirkender Autorität, die er selbst allein der maßstabbildenden Kraft eminenter Texte und großer Werke zuschrieb. Zum 100. war es dann mit dem gewohnten Ambiente halb öffentlicher Intimität vorbei - ein Staatsakt hatte Gadamer dem Kreis der Freunde, Kollegen und Schüler entrückt.

Dieter Henrichs surrealer Hinweis, dass Gadamer in drei Jahrhunderten gelebt habe, widerlegt nicht nur das Vorurteil, dass Philosophen nicht rechnen können. In diesem Fall ist der Zusammenhang, der zwischen dem Modus der Wirkungsgeschichte eines philosophischen Werkes und der langen Lebensspanne seines Autors besteht, aufschlussreich. Gadamer hat nicht nur der Sache nach das Gespräch als Medium der Überlieferung wirkungsträchtiger Traditionen ausgezeichnet. Er hat selbst die Sache der Hermeneutik so sehr im Modus des Gesprächs erklärt und vertreten, dass noch dem abgeschliffenen Duktus des geschriebenen und veröffentlichten Wortes der mündliche Ausdruck des Seminars und der Vorlesung anhaftet. Und Mündlichkeit verlangt Anwesenheit.

In dieser Hinsicht ist der Vergleich mit Beuys, dessen ausgestellte Werke von der Spontaneität und körperlichen Gegenwart des kommentierenden Malers zehrten, nicht zu weit hergeholt. Ähnlich eng war im Falle Gadamers der philosophische Gehalt mit der Präsenz des Redners, der sich als geistesgegenwärtiger Autor auf sein jeweiliges Publikum einstellt, verflochten. So bleibt das Geschenk eines langen Lebens und die Generationen übergreifende Anwesenheit des Autors dem auf Mündlichkeit eingeschworenen Werk nichts Äußerliches.

Wenn man eine Studentengeneration mit sieben Jahren ansetzt, hat Gadamer, seit den frühen dreißiger Jahren, auf sieben aufeinander folgende Generationen Einfluss genommen. Und er war nicht nur der Lehrer von Studenten. Doppelten Einfluss hatte er als Lehrer von denen, die ihrerseits Lehrer wurden. Er ist sogar zum Lehrer von jüngeren Kollegen geworden, die seinen Gedanken erst über die Lektüre des vergleichsweise spät veröffentlichten Werkes begegnet sind und dann, im persönlichen Umgang mit dessen liberalem Autor, einen unabhängig urteilenden, generösen Geist kennen und verehren lernten. Der über viele Generationen hinweg geführte Dialog mit empfänglichen Gemütern hat ebenso viele Perspektiven gestiftet, aus denen Gadamer nun, wie es die Nachrufe bezeugen, wahrgenommen wird.

Nur eine davon ist die Perspektive meiner Generation. Für uns hat Gadamer nicht zu den Lehrern gehört, die uns im deutlichen Hinblicken auf den Bruch mit korrumpierten Traditionen das Unterscheiden und, durch diese Kritik hindurch, die Aneignung des unversehrt Gebliebenen gelehrt haben. Aber Gadamer, der auch über Abgründe Brücken baute und dem es gelang, seinen Freund Löwith aus der Emigration zur Rückkehr nach Heidelberg zu bewegen, hat nach dem Kriege zu einer Versöhnlichkeit ohne falschen Ton beigetragen. Seine überragende Leistung ist die Klärung einer vom Nietzsche der Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung über den Briefwechsel zwischen Dilthey und dem Grafen York bis zum frühen Heidegger anhängigen Diskussion. Ohne fatale Kontinuitäten herzustellen, will Gadamer im zweiten Teil von Wahrheit und Methode einen Weg weisen, auf dem wir uns jenseits des Historismus Überlieferungen aneignen können, ohne die bindende Kraft ihres Wahrheitsgehalts zu zerstören. Jürgen Habermas

Jürgen Habermas ist Professor emeritus für Philosophie an der Universität Frankfurt am Main
Es ist ebenso schwer zu glauben, dass Hans-Georg Gadamer tot ist, wie bisher zu glauben war, dass er noch lebte: Er war längst in eine Sphäre entrückt, in der der Tod als eine gewaltsame Zäsur, die er doch ist, aufgehoben und das Leben der Person bruchlos in das Leben des Werkes überzugehen schien, dem die Person einmal das Leben gab. Freilich grenzte die Tatsache, dass Gadamer als der sterbliche Erzeuger dieses Werkes noch lebte und noch im letzten Jahrzehnt seines Lebens als der große alte Mann der deutschen Philosophie sich öffentlich vernehmen ließ, an ein Wunder; aber da wir uns an dieses Wunder gewöhnt hatten, erscheint die Zäsur seines Todes als umso unglaubhafter. Natürlich kann so nur jemand reden, dem die Person Gadamers und ihre Geschichte - eine persönliche Geschichte, die das Kaiserreich, die Weimarer Republik, das "Tausendjährige Reich" und noch gut 50 Jahre Bundesrepublik umfasste - ferner steht als das schriftliche Werk. Obwohl ich als Student noch in seinem Seminar gesessen habe, obwohl ich Gadamers persönlichem Rat eine entscheidende Weichenstellung am Beginn meines Philosophiestudiums verdanke, ist mir die Person doch immer ferner geblieben als das schriftliche Werk, das mich stark beeinflusst hat.

Mein Nachruf auf die Person kann daher nur ein Nachruf auf den Autor Gadamer als die Person sein, die sich in ihrem Werk manifestiert. Es ist die Person eines Hommes de Lettres, dem die Philosophie zur Lebensform geworden ist, eines urbanen Anwalts und Vermittlers der großen europäischen Tradition in Philosophie und Kunst und eines für Neues aufgeschlossenen, auf andere Meinungen neugierigen Gesprächspartners von freundlich insistierender Eindringlichkeit. Kein Zufall, dass die Idee des Gesprächs - des Gesprächs, "das wir sind", wie Gadamer sagte - zur Keimzelle seiner Hermeneutik wurde. Dies nicht zuletzt unterscheidet ihn von Heidegger: Die Idee des offenen Dialogs ist bei Gadamer, als Paradigma einer hermeneutischen Situation, ein im Grunde Heidegger-fremdes Element in einer ansonsten zutiefst von Heidegger inspirierten Philosophie.

Habermas hat Gadamers Hermeneutik als "Urbanisierung der Heideggerschen Provinz" bezeichnet; diese treffende Charakterisierung erklärt den immensen Einfluss, den Gadamers Hermeneutik über die deutschen Grenzen hinaus auf die hermeneutischen Wissenschaften, insbesondere auf Kunst- und Literaturwissenschaft, ausgeübt hat und zuletzt auch auf die analytische Philosophie.

Was Habermas' Charakterisierung freilich nicht ausspricht, ist eine profunde Zwiespältigkeit im Werk Gadamers, eine Zwiespältigkeit zwischen einem an der Oberfläche dominierenden, zutiefst bildungsbürgerlichen, konservativ-liberalen Traditionalismus und dem in der Tiefenschicht des Werkes angelegten radikalen Impuls einer - im intellektuellen und politischen Sinne - kritischen Hermeneutik. In beiden Zügen ist der Einfluss Heideggers unübersehbar; weil aber der Zwiespalt unaufgelöst bleibt und der Traditionalismus im Duktus des Werkes und seiner Rhetorik dominiert, bleibt auch die Urbanisierung der Heideggerschen Provinz zwiespältig. Gadamers Hermeneutik ist beides: ein Ins-Recht-Setzen der Überlieferung als autoritative Quelle von Wahrheit gegen die antitraditionalistischen und antiautoritären Impulse der Aufklärung und die hermeneutische Begründung eines produktiv-kritischen Verhältnisses zur Überlieferung.

Ich glaube, dass der zuerst genannte Zug mit seinen konservativen Implikationen am ehesten den idiosynkratischen Zügen der Person Gadamers entspricht; es ist dieser Zug, durch welchen Gadamers Hermeneutik eine Gegenposition zu Walter Benjamins These darstellt, in jeder Epoche müsse versucht werden, "die Überlieferung von neuem dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriff steht, sie zu überwältigen". Was Benjamin gegen Gadamer zur Geltung bringt, ist, dass "das Gespräch, das wir sind", ein von Machtbeziehungen und Interessenkonflikten durchzogener Diskurs ist, Medium nicht nur einer Fortsetzung der Überlieferung, sondern auch einer drohenden Korrumpierung ihrer besten Potenziale. Für Letzteres bietet die Korrumpierung der besten deutschen Traditionen durch den Nationalsozialismus ein schlagendes Beispiel. Nach der Katastrophe der Nazizeit war gewiss eine "rettende Kritik" der Überlieferung, wie sie etwa Theodor W. Adorno gegen das herrschende Verständnis der deutschen Tradition praktiziert hat, ein plausibleres Ziel der hermeneutischen Praxis als das von Gadamer gelegentlich - in verdächtiger quasimilitärischer Terminologie - postulierte bloße "Einrücken in den Überlieferungszusammenhang": Dass Letzterer in sich heterogen, kontrovers und korrumpierbar ist, dafür hat Gadamer als letzter großer Repräsentant einer in ihrem Selbstverständnis ungebrochenen bildungsbürgerlichen Elite - außer als Kritiker des modernen Szientismus - kaum einen Sinn gehabt.

Es sind die traditionalistischen - und idealistischen - Züge von Gadamers Hermeneutik, die nicht nur zum Gegenstand einer Kritik vonseiten der Diskurspragmatiker, sondern auch zum Gegenstand dekonstruktiver Attacken geworden sind. Diesen Zügen widerstreiten bei Gadamer aber Kerngedanken seiner - von Heidegger inspirierten - Neudeutung des hermeneutischen Zirkels, die zum Traditionalismus Gadamers quer stehen und die wesentliche Bausteine einer kritischen Hermeneutik in sich enthalten, die gar nicht im Widerspruch steht zur zitierten These Benjamins. Denn der hermeneutische Zirkel, wie Gadamer ihn gegen die Tradition der geisteswissenschaftlichen Hermeneutik exponiert hat, verlangt vom Interpreten nicht Unterwerfung unter eine Tradition, sondern deren kritisch-produktive Aneignung, ein Unterscheiden des Wahren und Falschen aus dem Horizont einer jeweiligen Gegenwart.

Was die Elemente einer kritischen Hermeneutik betrifft, ist Gadamers Werk längst nicht ausgeschöpft; mit seinen Potenzialen einer produktiven Neulektüre bildet es nach wie vor einen starken Gegenpol zur Transzendentalpragmatik ebenso wie zur Dekonstruktion. Sie tut es deshalb, weil sie kritische Impulse beider in sich aufnehmen kann und gleichwohl als Hermeneutik - als Philosophie des endlichen Verstehens im einen Fall, als Philosophie des endlichen Verstehens im anderen - deren unerlässliches Korrektiv bleibt. Und nicht nur das: Ich glaube, dass Gadamers sprachphilosophische Hermeneutik (oder hermeneutische Sprachphilosophie) vergleichbaren Ansätzen in der analytischen Philosophie - ich denke nicht nur an Donald Davidson und sein dem Gadamerschen Verstehensprinzip in gewisser Hinsicht analoges principle of charity - durch ihren ungleich weiteren sprachphilosophischen Horizont in entscheidenden Punkten überlegen bleibt. Eine Philosophie aber, die sich gegenüber ihren stärksten Antipoden als derart resistent und produktiv behauptet, bedarf sicherlich keines Nachrufs. Albrecht Wellmer

Albrecht Wellmer ist Professor emeritus für Philosophie an der Freien Universität Berlin
Ein Leben lang bezog sich Hans-Georg Gadamer auf die frühe Faszination durch Martin Heidegger. Für Philosophen bedeutet ein großer Lehrer eine wahre Gabe, genauer gesagt eine Wegweisung, die dem eigenen Denken doch Freiheit lässt. So hat es schon Sokrates vorgemacht. In spezialisierten Wissenschaften steht dagegen die verlässliche Übermittlung und Aufnahme des jetzt gültigen Standards im Vordergrund. Das leisten viele Experten hervorragend, während der Lehrer als ein motivierender Sympathiefaktor hinzutritt. Exorbitante Entdeckungen liegen ohnehin jenseits der "normalen Wissenschaft", wie Thomas Kuhn meinte.

Im Laufe der letzten Jahre begann Gadamer immer mehr von sich selbst zu berichten. Hatte er doch ein saeculum gesehen, Freunde und Konkurrenten überlebt, politische Systeme und intellektuelle Moden an sich vorüberziehen lassen. Er war längst selbst ein Lehrer für Generationen von Philosophen sowie Studenten vieler Fakultäten geworden. Der eigene Weltruhm hatte die Wirkung Heideggers überholt.

Was ist nun unabhängig von der akademischen Vorbildfunktion, also der praktischen Anwendung jener Hermeneutik, zu der Gadamer die treffende Analyse lieferte, vom Theoriestatus der Unternehmung zu sagen? Als das Hauptwerk Wahrheit und Methode im Jahre 1960 erschien, meldet sich bald ein ständig wachsender Erfolg. Denn in den Geistes- oder Kulturwissenschaften, die stets in methodologischer Bedrängnis standen, bedeutete die von Dilthey wiederentdeckte und von Gadamer aktualisierte Hermeneutik ein epochales Aufatmen.

Aber der Druck der Naturwissenschaften, die nicht zuletzt wegen technischer Umsetzungschancen dominieren, blieb erhalten. Philosophen haben im Laufe des 20. Jahrhunderts mit großem Eifer, ja fast um den Preis der Philosophie selbst versucht, aus dem sonderbaren Fach eine "normale Wissenschaft" zu machen. Der Neopositivismus des Wiener Kreises trug in seiner internationalen Verbreitung dazu die Wissenschaftstheorie bei. In der Variante von Karl Popper galt das zeitweilig als Credo des Liberalismus überhaupt.

Die angelsächsische Sprachanalyse ist im Gefolge Wittgensteins bestrebt, eine Methode argumentationsfester Mikrologie für Problemlösungen in zahlreichen Einzelfragen durchzusetzen. Damit emanzipiert sie sich vom Ideologieverdacht gegenüber großen Synthesen, und das findet Akzeptanz bei aufstrebenden Köpfen. Dennoch wollen wir, ob zünftige Philosophen oder nachdenkliche Alltagsmenschen, ein Gesamtbild der Welt, in der wir uns zurechtfinden müssen, einfach um in ihr leben zu können. Wissenschaftstheoretische Abstraktionen - und das meint nicht die reichen Sacherkenntnisse der Einzelwissenschaften selbst - dienen dem Ziel ebenso wenig wie scharfsinnige Spitzenklöppelei an exemplarischen Details. In das Vakuum tritt eine Verstehenstheorie wie die Hermeneutik mit weichen Kanten und weitem Horizont ein, welche die geschichtliche und interkulturelle Dimension miteinbezieht, ohne die sogar die exakteste Beschreibung des Status quo blind wäre.

Eine ganze Weile hat in der Bundesrepublik das Stichwort der Kritik die Stellvertreterrolle für die alteuropäische Philosophie übernommen. Man ist - aus welchen Gründen auch immer - in der diskutierenden Öffentlichkeit inzwischen des Fundamentalkritizismus überdrüssig geworden. Sichtlich bedarf es ebenso der vernünftigen Affirmationen. Die Hermeneutik bietet hierfür flexible Angebote, die auf ein normatives Dogma verzichten. Das entspricht der gegenwärtigen Wirklichkeit viel eher als universalistische Prinzipienreiterei. Wer im Rahmen der Denktradition, an der wir alle hängen, eine Vorstellung davon gewinnen will, was Philosophie noch vermag, der sollte sich nicht an Absagen und Surrogate halten, wie etwa die Postmoderne, deren Stunde längst geschlagen hat. Im Zeitalter des unüberschaubar ausgebreiteten Wissens behält die Hermeneutik immer den humanen Fluchtpunkt im Auge. Rüdiger Bubner

Rüdiger Bubner ist Professor für Philosophie an der Universität Heidelberg

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