DW AltaVista Translation


2004/06/28 (07:36) from 80.139.175.209' of 80.139.175.209' Article Number : 143
Delete Modify FAZ Access : 3227 , Lines : 46
Auf der Suche nach der Madeleine-Region
Download : 7-pictureservlet.jpg (35 Kbytes)

7-pictureservlet.jpg
Gedächtnisforschung
Auf der Suche nach der Madeleine-Region
Von Volker Stollorz


01. Juni 2004 Schon die Erinnerung an die Lektüre löst Verzückung aus. Der Geschmack eines in Lindenblütentee getunkten Gebäckstücks namens "Petite Madeleine" diente Marcel Proust in seinem Jahrhundertroman "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" als Schlüssel zur Vergangenheit. Kaum zergeht das Gebäck auf seiner Zunge, überströmt den Erzähler Marcel ein unerhörtes Glücksgefühl: "Mit einem Mal war die Erinnerung da." Vor seinem geistigen Auge steigen Stadt und Gärten von Combray auf, "aus meiner Tasse Tee".

Wie ist so etwas möglich? Generationen von Gedächtnisforschern hat die berühmte Romanszene inspiriert. Sie rätselten, wie unser Gehirn persönliche Erlebnisse speichert und wiederauferstehen läßt. Minutiös hat Proust den Zugang zum "unermeßlichen Gebäude der Erinnerung" beschrieben und einige seiner Regeln enthüllt: Nicht etwa der Anblick des Gebäcks vermag den Prozeß in Gang zu setzen, heißt es im Roman, sondern erst die Sekunde, da der mit "Gebäckkrümeln gemischte Schluck Tee meinen Gaumen berührte".  

Geheimnissuche im Kernspintomographen

Episodisches oder auch autobiographisches Gedächtnis nennen Forscher heute jene Fähigkeit des Romanhelden, einmal erlebte Szenen anhand winziger plötzlicher Hinweise auch Jahre später im Geiste wiederauferstehen zu lassen. Eine Reise in dieses bisher tief im Hirn verborgene Reich der Erinnerungen haben britische Wissenschaftler in der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift „Neuron“ unternommen. Dafür legten sich 20 Freiwillige in einen jener unbequemen Kernspintomographen, die Forschern heute dank starker Magnetfelder Aufnahmen des sich erinnernden Gehirns erlauben.  
Bei dem Gedächtnistest konfrontierte Jay Gottfried vom University College in London seine Versuchsteilnehmer zunächst für zehn Sekunden mit einem als angenehm empfundenen Duft - etwa Rosenwasser. Wenige Sekunden später sahen die Probanden dann jeweils ein Bild: mal einen Helm, dann einen Ball oder eine Holztruhe. Ihre Aufgabe bestand nun darin, sich innerhalb der nächsten Sekunden eine kleine Geschichte auszudenken, die etwa Rosenduft und Helm kreativ miteinander verknüpfte. So assoziierte ein Teilnehmer, wie er beim Rugby im Garten mit einem Helm bewaffnet in einen Rosenbusch fällt.

Danach kam der nächste Geruch, ein neues Bild und eine weitere erdachte Kurzgeschichte - das Versuchsziel war in dieser Phase stets die willkürliche Herstellung von Erinnerungsinhalten. Erst nach einer Lernphase mit rund 130 verschiedenen Bildern und 9 wechselnden Gerüchen begann der eigentliche Gedächtnistest. Hierzu vermischte Gottfried alte Bilder mit neuen. Die Versuchspersonen sollten sich erinnern, welche Bilder ihnen schon bekannt erschienen - was Menschen in der Regel sehr gut gelingt.

Leuchten im piriformen Cortex

Das überraschende Ergebnis: Wann immer Teilnehmer ein ihnen vertrautes Bild erkannten, leuchtete im Scanner auch jener Hirnbereich auf, in dem eigentlich Gerüche repräsentiert sind. Und das, obwohl es während der Testphase nichts mehr zu riechen gab. "Wenn sie ein bekanntes Bild wiedererkennen, wird im Gehirn zugleich auch der Geruchsanteil der Erinnerung wiedererweckt", erklärt Gottfried den neuen Befund.

Der offensichtlich mit Geruchsinformationen befaßte Bereich ist eine bisher wenig beachtete Hirnregion. Der sogenannte piriforme Cortex galt bisher als bloße Relaisstation von Nervenzellen zwischen Nase und Großhirn. Die neue Studie liefert beim Menschen erstmals Hinweise, daß dort womöglich Düfte- oder auch Geschmackseindrücke im Gehirn repräsentiert werden, um sie bei späteren episodischen Erinnerungen abrufen zu können.

Erinnerung ein dynamischer Prozeß

Das paßt exakt zu modernen Theorien des Gedächtnisses. Erlebtes, also der Geruch einer Rose, das Bild eines Helms und das Rascheln des Rosenstrauchs, wird demnach nicht als komplettes Erinnerungspaket abgespeichert. Vielmehr fragt eine flexible Schaltzentrale, der Hippocampus, schon beim Anblick etwa des Helms in den verschiedenen sensorischen Hirnzentren ab, ob es zu dem Bild erinnerte Szenen gibt und welche Sinne dabei beteiligt waren. In einem dynamischen Prozeß verbindet der Hippocampus dann verschiedene Sinneseindrücke lose zu Gedächtnisakten, wobei die Repräsentation des Gesehenen, Gehörten, Gerochenen, Gefühlten beim Erinnern aus verschiedenen Hirnregionen erneut zusammengeklaubt werden muß.  
Warum treibt das Hirn diesen Aufwand? "Der Mechanismus erlaubt dem Menschen mehr Flexibilität beim Abrufen episodischer Erinnerungen", glaubt Gottfried. Einmal Erlebtes könnte darüber hinaus ständig durch weitere Erfahrungen moduliert werden. So kann der Duft der Rose verstärkt sein, weil er mit weiteren positiven Erlebnissen verbunden ist. Der Trick dabei scheint zu sein, daß man aufgrund winziger, vertrauter Zeichen ganze erlebte Episoden erinnern kann. Ein solches Gedächtnis macht das Leben nicht nur reicher und schöner, sondern war womöglich in der Evolution überlebenswichtig. Das System der über mehrere Sinne verteilten Gedächtnisassoziationen erlaubte es schon Steinzeitmenschen, sich etwa die drohende Ankunft eines Löwen vorzustellen. Als Zeichen reichte dem geübten Gehirn ein Fußabdruck im Sand, das Rascheln eines Busches oder ein typischer Geruch im Wind - auch wenn das Raubtier selbst noch verborgen war.

Auch der Bielefelder Neuropsychologe Hans Joachim Markowitsch sieht die neuen Ergebnisse im Einklang mit den Theorien vom modularen, hierarchischen Aufbau des Gedächtnisses. Wenn der Geruch beim Einspeisen einer Erinnerung eine wesentliche Rolle spiele, dann versuche das Gehirn auch beim Abruf in den Zustand dieser Einspeisung zu gelangen. "Das erleichtert das Erinnern", glaubt Markowitsch, den auch nicht wundert, warum gerade Gerüche sich besonders tief ins Gedächtnis einprägen: "Das Gedächtnis entstand evolutionär als Geruchsgedächtnis."

Erinnerung auch ohne Reaktion im Riechhirn?

Heftig umstritten unter Hirnforschern bleibt allerdings die Frage, ob der durch erinnerte Bilder aktivierte Teil des piriformen Cortex wirklich unerläßlich für das Gedächtnis ist. "Das muß nicht sein", sagt auch Gottfried. Der Sinn der Reaktivierung des Riechhirns beim Anblick bekannter Bilder könne einfach darin liegen, "lebendigere und detailliertere Erinnerungen" zu ermöglichen. Es gibt allerdings einige Patienten, bei denen etwa eine Störung im visuellen Cortex Erinnerungen derselben Szene auch in anderen Sinnen auslöscht. 1993 beschrieb eine australische Forscherin den berühmten Fall M. H., bei dem bestimmte Bereiche im visuellen Cortex durch einen Infarkt zerstört worden waren. Der Patient büßte fast sein komplettes episodisches Gedächtnis ein, weil er bildhafte Aspekte all seiner persönlichen Erinnerungen nicht mehr reaktivieren konnte. Erstaunlicherweise gelang es ihm auch nicht mehr, die zu diesen Szenen gehörenden akustischen und olfaktorischen Eindrücke abzurufen.

Daß bei Erinnerungen im Gehirn nicht nur mehrere Sinne, sondern auch Gefühle aufs engste zu Gedächtnisakten verknüpft werden, konnte Gottfried dann ebenfalls zeigen - mit einer kleinen experimentellen Manipulation. Um Licht ins Dunkel zu bringen, wurden Versuchsteilnehmern angenehme, neutrale oder unangenehme Gerüche zusammen mit den jeweiligen Bildern angeboten - also statt Rosenduft etwa der eines alten Fisches.

Ohne Gefühle keine sinnvolle Erinnerung

Das Ergebnis stimmt auch hier mit Prousts Beschreibungen überein: "An Bilder, die zusammen mit als positiv erlebten Gerüchen assoziiert wurden, erinnern wir uns besser", erklärt Gottfried. Die Nervennetze der Erinnerung werden offenbar um so reicher geknüpft, je dichter positive Emotionen darin verwoben sind. Was passiert, wenn Menschen keine einmal erlebten Gefühle mehr abrufen können, erleben Patienten mit Urbach-Wiethe-Syndrom. Bei ihnen verkalkt der für Gefühle zuständige Hirnbereich, die sogenannte Amygdala. Erzählt man solchen Kranken eine Geschichte, in der eine Frau in einem schwarzen, gelbgepunkteten Kleid von einem Mann erdolcht wird, und fragt man sie nach einer halben Stunde, woran sie sich erinnern können, dann schildern sie minutiös das Kleid der Frau - den schrecklichen Mord aber haben sie vergessen.

Der Grund: auf Erinnerungen mit emotionalem Kontext kann ihr Hippocampus nicht mehr zugreifen, die Amygdala ist verstummt. Solche Schäden im emotionalen Anteil episodischer und autobiographischer Erinnerungen können "auch Menschen erleiden, die schwerem traumatischem Streß ausgesetzt waren", berichtet Markowitsch. Aber auch bei Gesunden verschwinde oft die emotionale Farbe vieler einst lebhafter Erinnerungen mit dem Alter. Das autobiographische Gedächtnis wird dabei tendenziell zu einem bloßen Faktenwissen, das zwar ständig wiederholt, aber nicht mehr emotional wiedererweckt werden kann.

Dieses Schicksal blieb Prousts jungem Romanhelden zwar erspart. Aber auch er stieß an eine unüberwindliche Grenze bei seiner Reise in die Vergangenheit: Marcel suchte zwar wie Forscher heute die Wahrheit, wußte aber, daß er sie am Ende in sich erfand wie das Combray seiner Erinnerung. Eine "schwere Ungewißheit" trete ein, wenn der Forscher zugleich das "dunkle Land ist, das er erforschen muß", erkannte Prousts Erzähler: "Erforschen? Nicht nur das: Erschaffen." Der Forscher stehe vor einem "Etwas, das noch nicht ist, das nur er wirklich werden lassen und dann an sein eigenes Licht rücken kann".

Text: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 30.05.2004, Nr. 22 / Seite 67
Bildmaterial: dpa/Ullstein

Backward Forward Post Reply List
http://theology.co.kr