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2004/07/10 (07:37) from 80.139.163.68' of 80.139.163.68' Article Number : 152
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Zu wenig Ärzte für Asiens Seelen


psychologie

Zu wenig Ärzte für Asiens Seelen

In China und anderen asiatischen Staaten nehmen psychische Erkrankungen zu

Von Harro Albrecht

In den Köpfen vieler Asiaten kreisen beängstigende Vorstellungen. Shenkui zum Beispiel ist die panische Angst chinesischer Männer, durch einen Samenerguss positive Energie, yang, zu verlieren. Koro heißt das Angstgefühl, dass der Penis im Körper verschwindet – mit tödlichen Folgen. Manche asiatische Männer sind derart besessen von dieser Idee, dass sie sich das Geschlechtsteil mit Klammern fixieren.

Unter der Bevölkerung Asiens grassiert offenbar eine ganze Reihe mentaler Probleme. Und etliche sind erst in den letzten Jahrzehnten entstanden. Wie die Korrespondentin des Fachblatts Nature, Carina Dennis, berichtet, ist die Seele vieler Menschen in den Tigerstaaten nicht mehr nur durch traditionelle Mythen belastet. Vielmehr fordern auch die kulturellen Erschütterungen durch den ökonomischen Aufschwung der Region ihren Preis. Familienbande zerbrechen, finanzielle Sorgen lösen Ängste aus. Die Reaktionen sind unterschiedlich. Japans Jugendliche etwa verschanzen sich massenhaft mit Videospielen in der elterlichen Wohnung und entwickeln eine als hikikomori bekannte Sozialphobie.

Zwar verkündet ein gerade publizierter Gesundheitsreport der Weltgesundheitsorganisation (WHO), dass die Menschen in Japan und China noch immer weniger als Westler an Depressionen litten. Dennoch nehmen sich in China nahezu 300000 Menschen pro Jahr, vor allem Alte, das Leben. Das entspricht einer der höchsten Selbstmordraten der Welt.

Wer auch immer sich in China umbringen will, hat es leicht. Einerseits lagern auf dem Land tonnenweise tödliche Insektengifte, andererseits fehlen Kliniken, um Giftopfer zu therapieren. Suizidversuche, die eigentlich verkappte Hilferufe sind, enden deshalb meist tödlich. Dass psychische Erkrankungen in Asien unterschätzt und unzureichend erfasst werden, hat nach Ansicht der Experten vor allem eine Ursache: In vielen Gegenden ist das Konzept psychischer Leiden völlig unbekannt. Düstere Stimmungen gelten als moralische Schwäche, über die man besser nicht spricht. Statt über »Depressionen« und »Ängste« klagen die Betroffenen über körperliche Beschwerden wie anhaltende Schmerzen in der Brust, Mattigkeit und Kopfschmerzen. Seelendoktoren werden in diesen Ländern also kaum vermisst – mit der Folge, dass sie überall Mangelware sind. In ganz Laos gibt es zum Beispiel nur zwei Psychiater.

Einige Staaten bilden inzwischen verstärkt Fachkräfte aus und setzen dabei auch auf fremde, etwa australische, Hilfe. Aber die frisch gebackenen Experten stehen vor großen Problemen. Vielfach müssen sie aus finanziellen Gründen Medikamente einsetzen, die in den westlichen Staaten schon längst abgeschafft wurden. Und selbst wenn das richtige Psychopharmakon zum Kranken gelangt, droht ein Risiko: Denn die traditionellen Kräuter und Naturheilmittel vertragen sich häufig nicht mit den chemischen Substanzen.

Wenn die Patienten ohne Wissen der Ärzte traditionelle Ingredienzien wie Ginseng schlucken, kann das unberechenbare Effekte auslösen. Viele Asiaten erleiden auch heftige Nebenwirkungen, weil die Psychopharmaka vor allem an Westlern getestet wurden. So wird Haloperidol, das Standardmittel bei Schizophrenie, vom Körper asiatischer Patienten viel langsamer ausgeschieden als etwa bei Europäern. Über die Hälfte aller Medikamente in der Psychiatrie werden mittels des Enzyms CYP2D6 aus dem Körper entsorgt – bei 70 Prozent aller Asiaten ist das Gen für dieses Enzym mutiert. Um dieser Besonderheit gerecht zu werden, müsste die Pharmaindustrie erst die Dosis für jedes einzelne Mittel mit Hilfe frischer Studien neu justieren.

Um die seelische Versorgung der westlichen Länder ist es besser bestellt. Doch auch hier besteht kein Grund, sich zurückzulehnen: Wie der jüngste WHO-Report nämlich auch feststellte, bekommen in den USA und vielen europäischen Ländern nur die Hälfte aller Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen wirklich jene Hilfe, die sie dringend brauchen.

(c) DIE ZEIT 08.07.2004 Nr.29

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