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2004/12/26 (19:26) from 129.206.196.30' of 129.206.196.30' Article Number : 174
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Das Wort ist Fleisch geworden
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Religion

Das Wort ist Fleisch geworden

Klaus Berger, sein "Jesus"-Buch und das Wunder von Weihnachten

Von Eckard Nordhofen
  
  
 
Max Ernst "Die Jungfrau züchtigt das
Jesuskind vor drei Zeugen" 1926
© Museum Ludwig Köln, VG Bild-Kunst,
Bonn 2004; Foto: Rheinisches Bildarchiv
Seit es ihn gibt, hat der Monotheismus ein Medienproblem. Wie kann ein Gott, der kein Ding in der Welt, vielmehr der Schöpfer aller Ding und der mystische Hintergrund des Seins ist, präsent gemacht werden? Die Frage nach dem Medium des Monotheismus wird durch die aktuelle Konfrontation von Christentum und Islam neu angeschärft. Die Antwort heißt Weihnachten.

Doch nicht im Ernst! Die Kindheitsgeschichte Jesu, wie sie Lukas erzählt – ist sie nicht eine Kindergeschichte, ein Weihnachtsmärchen, ein Singspiel? »Gloria in excelsis Deo«, so singen die Engelein, und süßer die Jingle Bells nie klingen, als wenn Rudolph the red-nosed reindeer jenen Santa, der die Distribution der Konsumgüter übernommen hat, auf hoch beladenem Schlitten durch die elektrifizierte Suburbia zieht, während sich überall im Land seine Gehilfen epidemieartig von den Hauswänden abseilen.

Nach den Ergebnissen der historisch-kritischen Exegese war die Heilige Schrift zu einem ehrwürdigen Fundus von Mythen und Legenden herabgespannt worden. Wundergeschichten wie die vom leeren Grab zu Ostern und die von der Jungfrauengeburt zu Weihnachten wollte eine gütige Interpretation allenfalls symbolisch verstehen. Irgendwie könnte »die Sache Jesu« auch so weitergehen.

Und was war das, die Sache Jesu? Im Zweifel der mythenfreie Restbestand, also das, was aus diesem Märchenbuch für die moralische Verbesserung des Menschengeschlechts brauchbar war. Fleißige Entmythologisierer hatten zwei Jahrhunderte lang Hand an die Heilige Schrift gelegt, die einmal der Glaubensanker der Reformatoren gewesen war. Arbeit am Heiligen! Wie ist sie der Heiligen Schrift bekommen? Historisch oder heilig – das schien auf eine Entscheidung hinauszulaufen. Der feste Grund für den Anker des Glaubens scheint freigespült, und das Schifflein treibt, wohin der Wind es weht.

Phantomschmerzen kennen wir: Bein ab, und doch kalte Füße. Ein Phantomglück taucht auf aus der langsameren, gewesenen Zeit: Weihnachten! Das war einmal das Christfest, strahlender Abglanz des unerschaffenen Lichts in dunkler Nacht. Das Geburtsfest Gottes als Mensch! Und wenigstens an Weihnachten waren alle daheim.

Wer hat Schuld an der Banalisierung von Weihnachten, ja überhaupt an der Kraftlosigkeit des westeuropäischen Christentums? »Ihr glaubt ja nichts«, bemerkt der neue Nachbar aus der Türkei, dessen Töchter neuerdings wieder Kopftuch tragen.

Rekonstruieren wir Weihnachten einmal als Antwort auf jenes einzigartige Medienproblem, das darin besteht, dass von einer Realität die Rede sein soll, auf die man nicht mit dem Finger zeigen kann. »Keiner hat Gott je gesehen«, heißt es im Kerntext des Neuen Testaments, dem Johannesprolog (1, 18).

Angenommen, der Ägyptologe Jan Assmann habe Recht und mit der »Mosaischen Unterscheidung« sei erstmals in der Religionsgeschichte ein Wahrheitsanspruch gestellt worden. Was für ein Sündenfall wider das höchste Gut der Toleranz! Für das relativistisch gestimmte Publikum führen längst nicht mehr alle Wege nach Rom, sondern dorthin, wo jeder nach seiner Fasson selig wird.

Bei Licht besehen, markiert die Wahrheitsfrage des Monotheismus allerdings einen Beginn der Aufklärungsgeschichte. Wer sagt: Selbst gemachte Götter sind falsch, betreibt Religionskritik. Ohne sie ist die Geschichte von der Zermalmung des Goldenen Kalbes nicht zu denken. Mit ihr scheidet das Kultbild als Medium der Gottespräsenz aus. Es muss ausscheiden, denn ein neues steht bereit. Die Schrift! Für das alte Israel ist sie das Königsmedium des neuen, ganz anderen und einzigen Gottes.

Beim Kultbild bestand immer die Gefahr, dass die Statue verwechselt wird mit dem, was sie bedeutet. Die Schrift hingegen ist das Medium der Differenz. Buchstaben sind niemals das, was sie bedeuten. Auf einzigartige Weise machen sie Abwesendes anwesend, indem sie gleichzeitig seine Abwesenheit vorzeigen. Schrift ist wie geschaffen für einen Gott, der sich offenbart, indem er sich verhüllt. Und Er hatte selbst geschrieben, seine Weisung (Tora) mit dem Finger auf steinerne Tafeln. So wird die Schrift zum sakralen Medium seiner Präsenz.

Diesen Anspruch hat auch der Koran. Für den gläubigen Muslim ist er das unerschaffene Wort Gottes, der sich diesmal der Hand des Propheten bedient hat. Gott diktierte auf Arabisch. Nur Ungläubige kommen auf die Idee, den Text des Korans mit dem Methodenbesteck der philologischen Hermeneutik zu sezieren und zu relativieren. Dass der Koran der Ort der Gottespräsenz ist, gibt dem Buch eine messianische Qualität. Seine erhabene Entrückung macht ihn zum zentralen Modernisierungshindernis des Islams. Wer aber als Muslim den Koran entmythologisiert, bekommt Ärger. Und er wäre auch ohne die Sanktionen der Glaubenswächter arm dran. Nach dem Durchgang durch das Fegefeuer der historischen Kritik wäre von seiner Religion nicht viel mehr übrig als die wehmütige Erinnerung an die Schönheiten des alten Orients. Aus einem entzauberten Text könnte er sich holen, was sein Verstand und die politische Agenda ihm brauchbar erscheinen ließen, ungefähr so, wie es die christliche zivilreligiöse Praxis jetzt schon mit der Bibel tut.

Ein Verdacht kommt auf: Ist es so, dass nur ein aufklärungsresistenter Islam die Kraft und Bindungswirkung einer Religion entwickelt, die nicht nur große Fragen, sondern auch große Antworten hat? Und hat nicht das Christentum seine Kraft durch Aufklärung und Kritik verloren? Sind Religion und Vernunft in der Wurzel unverträglich?

Diesen Eindruck vermittelt ein sehr besonderes Buch, das der knorrigste Theologe des Landes, Klaus Berger, uns zu Weihnachten beschert. Es heißt Jesus, und dieser Titel ist Programm. Berger hat sich zum wichtigsten Metakritiker der Exegetenzunft entwickelt, der er selbst angehört. Schon die bloße Frage zu stellen – so Berger –, ob das Johannesevangelium »nicht viel älter sei als angenommen, ist irrationales Ketzertum, eine exegetische Häresie, eine Todsünde wider den mainstream, wo doch die Ökumene liberaler protestantischer und katholischer Exegeten ein ganz fester kollegialer Verbund ist, der seinesgleichen sucht«.


Das vierte Evangelium ist das theologisch gewichtigste, und seine Entstehung war von der Zunft immer ins 2. Jahrhundert gesetzt worden, was diese Schrift in gehörigem Abstand zum historischen Jesus gehalten und ihre Bedeutung geschwächt hatte. Historizität verbürgte Authentizität. Was nicht als historisch ausgewiesen werden kann, steht unter Fälschungsverdacht. Für Christen und Nichtchristen ist der »historische Jesus«, gekürzt um seine göttliche Abstammung, eine unstrittige Lichtgestalt. Ein Freund der Sünder und Kinder, gesalbt und geliebt von Frauen, die er vor der Steinigung rettet. Er punktet durch seinen offenbar lockeren Umgang mit dem jüdischen Gesetz. Andrew Lloyd Webber ist der Anwalt des Publikums: »Jesus Christ superstar, do you really know what they say you are?« Jesus aus Nazareth – ein toller Typ, und dann haben sie aus ihm den Christus, den Sohn Gottes, den Logos des großen Anfangs gemacht. Das entlarven wir als ein Interpretament des Frühkatholizismus.

Immer scheiden sich die Geister an dem Jesus, wie ihn das Johannesevangelium zeigt. Berger formuliert lapidar: »Dass die Jünger in ihm Gott begegnen, ist seine einzige Aussage.« Inzwischen steht Berger mit seiner frühen Datierung des Textes nicht mehr allein. »Im Anfang war Johannes«: Auf diese Weise gibt er ihm auch als Exeget das Schwergewicht zurück, das es in der Entwicklung des Christentums von Anfang an hatte. Im Prolog, der Essenz des Evangeliums, ist das Entscheidende schon enthalten. Der Spitzensatz lautet: »Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gezeltet.« Das ist die Antwort von Weihnachten. Es geht nicht nur um die Worte Jesu, sondern darum, dass Jesus das Wort ist.

Das Wort, der Logos, war am Anfang des Textes und »Im Anfang« von allem das Medium der Schöpfung. Gott sprach »und es ward«, heißt es im ersten Buch der Bibel, und nun war das Wort Fleisch geworden. Gott selber identifiziert sich mit dem Logos. Gott war das Wort, und das Wort war Gott. Das ist das Mysterium der Inkarnation. Und das ist er auch, der finale Medienwechsel des Monotheismus: Gottespräsenz im Menschen und nicht im Text. Das letzte Medium des Monotheismus in seiner christlichen Gestalt ist nicht die Schrift, sondern ein singulärer Mensch, der Christus.

Für die Frommen, die Gott gerne besäßen, ist der heilige Text das Faszinosum. »Der unsichtbare Gott, den wir nicht sehen können, hat uns doch etwas gegeben, woran wir uns halten können, seinen eigenhändigen Text! Die Schrift ist, wenn nicht Gott selbst, so doch das Zweitbeste, etwas Göttliches – immerhin.« In der Tat ist es Jesus, der dieses Konzept einer Gottespräsenz im Text dekonstruiert. Wie ein roter Faden zieht sich seine Auseinandersetzung mit den Schriftgelehrten durch alle vier Evangelien. Noch so viel Schriftgelehrsamkeit reicht nicht aus, um den Willen Gottes zu ermitteln.

Dabei stand kaum jemand Jesus so nahe wie die Schriftgelehrten. Er war selbst einer. In der Bergpredigt bekräftigt er die Tora. Aber: »Wenn eure Gerechtigkeit nicht weit größer ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen«. Als die Schriftgelehrten ihn mit einer erwischten Ehebrecherin konfrontieren, die nach der Tora die Todesstrafe durch Steinigung verdient, setzt sich der göttliche Finger, der einst für Mose auf steinerne Tafeln geschrieben hatte, in einer Lehrperformance erneut zu einer Gegendemonstration in Bewegung: »Jesus aber bückte sich und schrieb mit dem Finger auf die Erde.« Was hat er geschrieben? Es ist so unwichtig, dass wir es nicht erfahren. Es geht nicht um eine Gesetzesnovelle. Der Text schlägt nicht zu, denn Jesus selbst ist präsent. Er meistert die Situation mit dem Satz: »Wer von euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein.« Paulus legt nach: »Der Buchstabe tötet, der Geist macht lebendig.« Er weiß, was an die Stelle des heiligen Textes treten muss: der Mensch Jesus, der die Gottespräsenz im Buchstaben durch Gottespräsenz im Fleisch überboten und zur Nachahmung empfohlen hat. Das Christentum ist keine Buchreligion, sondern die der Inkarnation, die Religion von Weihnachten. Deshalb übersteht sie das Fegefeuer der historischen Kritik wie einen Läuterungsprozess.

Weihnachten, das Mysterium der Menschwerdung, ist ein Wunder. Was macht Berger mit den Wundern? Er macht sie stark. Die Wundergeschichten der Bibel sind das Reizthema einer Theologie, die auf der Höhe der Zeit bleiben will. In der Mitte des 20. Jahrhunderts hatte es Rudolf Bultmann mit seinem Programm der »Entmythologisierung« ins Zentrum der Debatten befördert. Wer elektrische Lichtschalter bedient, so meinte er, in dessen Welt sind Wunder nicht mehr zugelassen. Aber schon 1954 versuchte sein Schüler Ernst Käsemann einen »kerygmatischen Rückgriff«, das heißt, was die christliche Gemeinde von Jesus bekannte, konnte legitim in seinem Leben begründet sein.

Berger macht nun die Verhältnisse entscheidungsreif: »Entweder man bekennt sich zur Normativität moderner Alltagserfahrung und postuliert, dass es ein Durchbrechen der Naturgesetze schlechterdings (und infolgedessen auch in der Bibel) nicht geben kann, oder man achtet den offenen mystischen Kontext Jesu.« Wo verläuft die Grenze des Wirklichen? Berger plädiert für Mystik: »Mystik geht von der begründeten Annahme aus, dass die Wirklichkeit umfassender ist, als sie (natur)wissenschaftlich feststellbar ist. Mystik ist die Definition der Welt unter Einschluss der Existenz Gottes.«

Wenn der Alltagsverstand und die empiristischen Konzepte der Realität darauf geeicht sind, nur physische Realität zu akzeptieren, dann sprengt die Intention der biblischen Erzählungen gezielt diesen Grenzzaun. Berger zeigt überzeugend, dass die Speerspitze der Wundererzählung ins Herz der Normalität zielt. Ein Dornbusch, der brennt und nicht verbrennt, ist eine Manifestation gegen den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik. Genauso wenig kann eine Jungfrau ein Kind bekommen. Der Herr Kaplan wusste es übrigens in der letzten Weihnachtspredigt besser. Es handele sich um eine junge Frau, nicht um eine Jungfrau. »Was regt ihr euch auf?«


Weil solche verbilligenden Rationalisierungen genau das beseitigen, worauf die Erzähler der Wundergeschichten hinauswollen, stoßen sie die Realpräsenz Gottes, die in diesen paradoxen Ereignissen enthalten war, ab wie ein fremdes Implantat. Sind die Berichte des Neuen Testaments wahr?, so lautete 2002 ein anderer Buchtitel Bergers. Dort redet er von der »Dimension der mystischen Fakten«.

Was ist ein mystisches Faktum? Im Unterschied zu dem, was wir sonst ein Faktum nennen, ist es nichts zum Anfassen. »Fass mich nicht an!«, sagt der Auferstandene zu Maria Magdalena am Ostermorgen. Was sich entzieht, kann dennoch Spuren hinterlassen. Dann ist es wirklich geworden. Berger: »Verklärung halte ich nicht für eine physikalische Realität, und ich mache nicht die potenzielle Fotografierbarkeit zum Maßstab dessen, was ich für wirklich halten darf. Es ist aus meiner Sicht eine Erfahrung in Raum und Zeit, aber an deren Rande, denn mit den Mitteln der Kausalität ist dieses Geschehen nicht zu erklären.«

Die Zeichenpraxis der christlichen Kirche hat als spezielle Antwort auf das Medienproblem des Monotheismus ein eigenes Alphabet ausgebildet. Es ist nach der Grammatik der Inkarnation konstruiert. Jesus, das Fleisch gewordene Wort, ist, anders als Schrift, das, was es bedeutet. Zeichen und Bedeutung fallen zusammen. Das ist die Definition des Sakraments. In diesem Sinn könnte die Art, wie Klaus Berger die Wirklichkeit der Wunder deutet, sakramental genannt werden.

Nicht der geringste Reiz der Lektüre besteht für den Leser in der Frage: Ist Berger ein Revisionist, einer, der das Entmythologisierungsprogramm Bultmanns mit einer Remythisierung kontert? Haben da nicht beide vor jenem Verständnis von Wirklichkeit kapituliert, das die Realität auf physische Fakten reduziert? Was unterscheidet den von einem Fundamentalisten, der von der objektiven Wirklichkeit der Wunder spricht und in dessen Universum Exorzismen, Dämonen und der Teufel passen? Schließlich gehören sie zur Welt der Bibel.

Was Drewermann und Küng für die Amtskirche, ist Klaus Berger für die Gemeinde der Betroffenen und die Theologen von der weichspülenden Observanz. Berger hat sichtlich Lust auf die Rolle des Aufmischers, und er ist aufmerksam darauf bedacht, keinen Fettnapf der theological correctness auszulassen. Dabei verlässt er aber nie im Ernst den Garten der Vernunft. Es macht ihm Spaß, auf der Mauer zu sitzen und dem Publikum Reden zu halten über die Wildnis außerhalb des Gartens und die verlockenden Fernen, damit seine Zuhörer den Garten nicht für die Welt halten.

Zwar dient das dem intellektuellen Vergnügen des Lesers, aber es führt auch zu einem völlig unnötigen Selbstmissverständnis. Berger hat den falschen Feind ausgemacht. Ist wirklich die Aufklärung am Siechtum des Christentums schuld? Das Gegenteil ist richtig. Gerade die Herausforderungen durch die Buchreligion des Islams zeigt, dass das Christentum die Religion der Moderne ist. Die Christen können sich eine harte Bibelkritik leisten. Denn das Wort ist Fleisch geworden.

Klaus Berger: Jesus

Pattloch Verlag, 2004; 704 S., 28 €


(c) DIE ZEIT 22.12.2004 Nr.53
 






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