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2005/04/15 (00:52) from 129.206.197.53' of 129.206.197.53' Article Number : 194
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Nationalisten in Fernost
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Nationalisten in Fernost

Der chinesische Haß auf Japan ist Ausdruck der verpaßten Liberalisierung
von Ian Buruma

 
Ein chinesischer Demonstrant wirft vor der Japanischen Botschaft in Peking einen Stein
Foto: AP   
Ungefähr 40 Kilometer von Harbin entfernt, im Nordosten Chinas, stehen die Überreste einer riesigen, von Mauern umgebenen Anlage mit Gefängniszellen, Operationssälen, Büros, Verbrennungsöfen und sogar einem kleinen Privatflughafen, wo japanische Ärzte, Angehörige der Einheit 731, während des Zweiten Weltkriegs eine Reihe meist tödlich verlaufender Experimente an chinesischen, koreanischen und russischen Kriegsgefangenen durchführten. Es ist kaum etwas übriggeblieben, außer Teilen des Verbrennungsofens und das Hauptverwaltungsgebäude; den Rest hatten die Japaner kurz vor ihrer Niederlage 1945 zerstört.


Die Büros beherbergen heute eins der vielen Museen in China, in denen die Grausamkeiten dargestellt werden, die von den Japanern am chinesischen Volk begangen wurden. Auf diese Museen wird viel Sorgfalt und Geld verwandt. Die meisten sind in den letzten zehn Jahren entstanden, und weitere sind für 2005 geplant, weil sich das Ende des "antijapanischen Kriegs", wie es die Chinesen nennen, nun zum 60. Mal jährt. Sie sind eine seltsame Mischung aus heiligen Gedenkstätten, auf denen das chinesische "Martyrium" dargestellt wird, und Horrorkabinetten. Die Architektur läßt häufig den Einfluß von Daniel Libeskinds Jüdischem Museum in Berlin erkennen, wenngleich ohne dessen künstlerisches Raffinement, ein Stil der gebrochenen Räume und der gezackten Ränder.


Ich habe vergangenen Heiligabend im Harbin-Museum verbracht und die verschiedenen japanischen Grausamkeiten studiert, die in "tableaux vivantes" aus Stein oder Wachs dargestellt waren. Da kann man sehen, wie die Opfer (oder die "Holzscheite", wie es im Jargon der Einheit 731 hieß), zu Gefrierexperimenten benutzt oder bei lebendigem Leib seziert, mit tödlichen Bakterien infiziert oder mit Bomben aus toten Ratten oder Fliegen traktiert wurden. In einer dieser Szenen sieht man, wie Dorfbewohner elend am Typhus zugrunde gehen, und hört dazu Schreien und Seufzen vom Band.


Worum es bei alldem geht, wird einem auf Wandtafeln erläutert (die in einem dieser Museen in Shenyang mit Augen bemalt sind, aus denen blutige Tränen strömen): Das chinesische Volk, mit seiner 5000jährigen Zivilisation, darf nie wieder von feindlichen Angreifern gedemütigt werden. Nur eine große und starke Nation wird das Überleben der chinesischen Rasse garantieren. Aus dem Blut der Märtyrer des japanischen Militarismus wird nationale Stärke erwachsen.


Patriotismus dieser Art, der auf einem Gefühl kollektiven Opferseins und der Entschlossenheit basiert, ein herausragender Überlebender unter den Nationen zu sein, hat mittlerweile den Marxismus-Leninismus und das Danken Mao Tse-tungs als offizielle Ideologie der Volksrepublik China abgelöst. Wir werden ohne Zweifel in diesem Gedenkjahr noch mehr davon hören. Chinesische Regierungsvertreter sind äußerst geschickt darin geworden, die japanische Kriegsschuld als Druckmittel in der sino-japanischen Diplomatie zu nutzen. Ein zentraler Streitpunkt zwischen den beiden Nationen ist die Tatsache, daß Premierminister Koizumi weiterhin am Yasukuni-Schrein in Tokio seine Ehre erweist, wo die Seelen der Japaner (einschließlich der verurteilten Kriegsverbrecher) angebetet werden, die für ihren Kaiser gestorben sind. Als die Japaner kürzlich einmal dagegen protestierten, daß in ihren Gewässern ein chinesisches U-Boot unterwegs war, brachten die Chinesen das Gespräch auf Yasukuni - wieder einmal.

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Auch die Koreaner - im Norden wie im Süden - definieren ihre nationale Identität in bezug auf die japanische Aggression. Die Legitimität der Kim-Dynastie im Norden basiert im wesentlichen auf der mystischen Rolle, die Kim Il Sung als heroischer antijapanischer Widerstandskämpfer spielte. Das riesige patriotische Museum im Süden, nahe Seoul, das unter dem letzten Militärregime erbaut wurde, präsentiert dieselben "tableaux", die man in China sieht, mit dämonischen Japanern und koreanischen Märtyrern.


Vielleicht sollte der japanische Premierminister etwas vorsichtiger mit den Gefühlen derer umgehen, die einmal Opfer der Japaner waren, wie es die liberale japanische Presse oft fordert. Gewiß, die Verbrechen der Vergangenheit, egal welchen Landes, sollten niemals vergessen werden. Aber dennoch ist da etwas Irritierendes an der patriotischen Ideologie Ostasiens, vor allem der chinesischen. Daß die Wahrheit über die Abschlachterei, die China an seiner eigenen Bevölkerung verübt hat, immer noch unterdrückt wird, während permanent antijapanische Gefühle angeheizt werden, das schmeckt nach eigennütziger Heuchelei. Es sind viel mehr Chinesen durch Mao Tse-tung umgekommen als durch die kaiserliche japanische Armee.


Aber da ist noch etwas. Patriotische Erziehung lebt vom Geist eines bestimmten Nationalismus, dessen Ursprünge in Europa liegen, der nach Korea, China und Japan exportiert worden ist und der besonders fatale Konsequenzen nach sich zieht: ethnischer Nationalismus kombiniert mit sozialem Darwinismus, dem Kampf um das Überleben der stärksten Nationen und Rassen. Diese Haltung begleitete die amerikanischen Eroberungen und den späten europäischen Imperialismus. Die Propaganda des Ersten Weltkriegs, vor allem in Deutschland, war geradezu durchtränkt davon. Der Antisemitismus der Nazis, und der daraus resultierende Genozid, war eine extreme Variante davon. Dieser Geist war es vor allem, der die japanischen Eroberungen in China und Korea in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beflügelte. Als überlegene Rasse, so sagte man den Japanern, sei es ihre Pflicht, die schwächeren Rassen Asiens mit der imperialen Peitsche auf Trab zu bringen.


Und jetzt wird den Chinesen, in einer Kampagne nach der anderen, eingebleut, daß nur Disziplin, Wachsamkeit und immer größere nationale Stärke China vor künftigen Demütigungen bewahren können. Der zivile Patriotismus der französischen Republikaner oder die traditionelle amerikanische Form haben keinen Platz in einem autoritären System wie dem der Volksrepublik China, geschweige denn der vage, postnationale Idealismus der Europäischen Union. Japans offizieller Pazifismus, der dabei ist, in raschem Tempo zu zerbröckeln, hat mit Sicherheit wenig Ausstrahlung. Ideologisch steckt die Volksrepublik China, und in sehr viel geringerem Maß auch Südkorea, noch immer fest im späten 19. Jahrhundert, als darwinistische Ideen erstmalig die Runde machten.


Die frühen Sozialdarwinisten Chinas, Japans und Koreas waren Modernisten. Viele verstanden sich selbst als Liberale, die nichts wollten, als ihre tieftraditionellen Gesellschaften nach westlichen Maßstäben zu reformieren. Der erste republikanische Führer Chinas, Sun Yat-sen, war ein aktiver Befürworter von minzu zhuyi, oder einem ethnischen Nationalismus. Er stand unter dem Einfluß japanischer Denker, die es minzokushugi nannten. Sie hatten sich von Darwin und Spencer inspirieren lassen. Obwohl der chinesische Aufstand gegen die Qingdynastie, die China jahrhundertelang regierte, starke ethnische Komponenten hatte (Han-Chinesen gegen Manchus), so war die traditionelle Vorstellung von China doch eher eine von Sprache und Zivilisation, weniger von Ethnizität. Der moderne Nationalstaat war in erster Linie ein Produkt des 19. Jahrhunderts - und das Modell ein westliches.

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Der westliche Einfluß auf die nichtwestliche Welt hat in den letzten 200 Jahren teilweise die Form eines ideologischen Kampfes angenommen, dessen Wirkungen noch heute zu spüren sind, nicht zuletzt im Nahen Osten. Sollte die moderne Nation auf Blut und Boden gegründet sein oder auf einer gemeinsamen Idee von Staatsbürgerschaft? Französische oder angelsächsische freiheitliche Demokratie oder germanisch-russischer Autoritarismus? Beide Modelle haben Höhen und Tiefen erlebt, aber das zweite scheint sich in Ostasien durchgesetzt zu haben, jedenfalls bis vor ein paar Jahrzehnten. Es triumphiert noch immer in China. Und einer der Gründe sind die japanischen Aggressionen.


Als der frühere japanische Premierminister Tanaka Kakuei zum ersten Mal 1972 Mao Tse-tung traf, dankte der Vorsitzende angeblich dem japanischen Oberhaupt wärmstens, denn ohne den japanischen Krieg wäre der Kommunismus besiegt worden. Da hatte er natürlich recht. Aber der nach-maoistische Nationalismus hat den Japanern mindestens ebensoviel zu verdanken. Und daraus lassen sich wichtige Lehren über das ziehen, was derzeit im Irak vorgeht.


Während der Meiji-Periode im späten 19. Jahrhundert war Japan eine Inspirationsquelle asiatischer Reformer. Nachdem es in den 1860er Jahren selbst eine Revolution erlebt hatte, wurde es zum Modell westlicher Modernität. Liberalismus und Sozialdarwinismus gingen oft Hand in Hand. Einer der großen Freidenker des 19. Jahrhunderts, Fukuzawa Yukuchi, war besessen von der Idee der nationalen Kraft. Er war ein glühender Verteidiger bürgerlicher Freiheiten, aber er war auch überzeugt, daß Japaner sich mit Westlern verheiraten und mehr Fleisch essen sollten, um die japanische Physiognomie zu stärken und den nationalen Genpool zu verbessern. Liang Qichao, ein führender chinesischer Reformer, bezog viele seiner Vorstellungen über den Westen von Fukuzawa und anderen japanischen Intellektuellen. Aber seine Art des Sozialdarwinismus war autoritärer. Er glaubte, "Freiheit bedeutet Freiheit einer Gruppe, nicht eines Individuums". Um nicht von anderen Rassen versklavt zu werden, so behauptete er, sollte man nur Sklave der eigenen Leute sein.


Diese zutiefst illiberale Vorstellung prägte auch Maos Art des leninistischen Nationalismus. Japans relativer Erfolg beim Aufbau rechtsstaatlicher Institutionen, der bis zur Machtübernahme der Ultra-Nationalisten in den 1930er Jahren währte, sollte der Sache der asiatischen Demokratien gedient haben. Statt dessen glaubten die Japaner aber, sie sollten ihre Form der Modernisierung den anderen Asiaten aufzwingen, nur eben ohne Demokratie.


Die Mandschurei wurde ein japanischer Marionettenstaat, wo die Japaner das modernste Schienennetz der Welt bauten, einige der feinsten Hotels, riesige Industrieanlagen, exzellente Krankenhäuser und eine effiziente Verwaltung, alles im Namen asiatischer Modernisierung. Der asiatische Nationalismus fand unter den chinesischen Eliten einigen Zuspruch, aber die meisten anderen Menschen waren nicht überzeugt. Die Japaner versuchten daraufhin, den Rest Chinas mit roher Gewalt zu erobern.


Der ethnische Nationalismus spielte in Korea sogar noch eine größere Rolle. Die Koreaner wurden, ähnlich wie die Taiwanesen, aber anders als die Chinesen, zu Subjekten des japanischen Kaisers. Aber weil Nationalität auf Ethnizität basierte, wurden sie gezwungen, japanische Namen anzunehmen, und durften ihre Sprache nicht mehr sprechen. Trotz dieser Demütigung kollaborierten viele Angehörige der Eliten mit den japanischen Herren, eben weil sie dachten, dies sei der schnellste Weg zu nationaler Stärke und Modernisierung.

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Obwohl der japanische Versuch des modernistischen Imperialismus fehlgeschlagen ist, blieb viel von der Propaganda hängen. Chinesen und Koreaner sind mehr denn je überzeugt, daß nationales Überleben auf ethnische und nationale Stärke angewiesen ist, die auf autoritären Institutionen beruht. Deshalb wurde das ideologische Vakuum, das vom Untergang Maos hinterlassen wurde, so schnell vom ethnischen chinesischen Nationalismus gefüllt. Und das erklärt auch, warum Taiwan noch immer so ein explosives Thema ist.


Vom Standpunkt des Blut-und-Boden-Nationalismus aus betrachtet, ist die Unabhängigkeit Taiwans eine Perversion, eine Erinnerung an die Demütigung durch den japanischen Imperialismus. Aber die Taiwanesen, vor allem diejenigen, deren Vorfahren das chinesische Festland schon vor Jahrhunderten verlassen haben, sehen die Sache anders. Sie sind jetzt Demokraten. Die Tatsache, daß sie Chinesisch sprechen, ist kein Grund für sie, sich einer autoritären Regierung auf dem Festland zu unterwerfen.


Auch die Südkoreaner sind heute Demokraten. Es ist sicher kein Zufall, daß sich mit offeneren Institutionen auch die Dämonisierung Japans verringert. Tatsache ist, daß die Beziehungen zu Japan selten so gut waren wie heute. Das Angriffsziel geschichtspolitischer Wut hat sich gänzlich zu den früheren koreanischen Kollaborateuren verschoben, die nun offiziell als Verräter am koreanischen Volk gebrandmarkt werden. Um das festzuschreiben, wurde ein neues Gesetz entworfen, das fordert, den Begriff "projapanisch" aus der öffentlichen Bezeichnung dieser Leute zu verbannen. Sie sind schlicht und einfach Verräter. Das mag nur ein populistischer Schachzug der antielitären Regierung sein. Aber schon der Vorschlag eines solch seltsamen Gesetzes zeigt, wie stark die Gefühle in Sachen Vergangenheit sind.


Autoritäre Mobilisation im Namen des darwinistischen Kriegs kann enorme Energien unter Völkern freisetzen. Vielleicht hätte es das außerordentliche ökonomische Wachstum in Südkorea und China nicht ohne den eifrigen Patriotismus gegeben, der damit einhergeht. Aber solche Energien können sich auch auf finstere Ziele richten, auf Eroberungen fremder Länder zum Beispiel. Südostasien ist nicht der einzige Teil der Welt, wo dieser Kampf aus dem 19. Jahrhundert noch heute gekämpft wird. Wir, im Westen, sollten da sehr genau hinsehen, nicht zuletzt, weil es bei uns angefangen hat.


Vom Autor erschien zuletzt: "Okzidentalismus" (Hanser), mit Avishai Margalit. Übersetzung: Mariam Lau


Artikel erschienen am Don, 14. April 2005

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