DW AltaVista Translation


2005/05/26 (05:58) from 129.206.196.80' of 129.206.196.80' Article Number : 218
Delete Modify Zeit Access : 2116 , Lines : 64
Denken mit Turbo





Denken mit Turbo

Sie ist die berühmteste Wissenschaftlerin Großbritanniens. Trotzdem wird die Hirnforscherin Susan Greenfield ihr großes Ziel nie erreichen. Die Royal Society will die schrille Professorin nicht in ihre Reihen aufnehmen

Von Fred Grimm
 

Vergangene Woche passte es schlecht. Da kämpfte Susan A. Greenfield gegen die Bildungsmisere in Brasilien. Mittwoch geht auch nicht – Dinner in New York. Und nächste Woche? Ein Symposium in Jordanien. Königin Noor al-Hussein hat eingeladen. Nichts zu machen, sorry. Nur am Montagmorgen wäre noch eine Lücke frei. 7.45 Uhr, Flughafen London-Heathrow, am First-Class-Schalter der British Airways. »Da hätte ich über eine Stunde Zeit«, sagt die tiefe Stimme am Telefon. »Hoffentlich sind Sie ein Morgenmensch.«

Sollte man sein. Wenn man die berühmteste Wissenschaftlerin Großbritanniens trifft, kann es passieren, dass man bereits nach 25 Minuten die Zukunft des menschlichen Gehirns diskutiert hat, über Miniröcke von Prada, den Weltfrieden, Terrorismus, Feminismus, Männer-Sandalen und die demokratische Revolution in der Wissenschaft. Die 54-jährige Hirnforscherin denkt und spricht mit atemberaubender Geschwindigkeit. Ein steter Strom von Thesen, Anekdoten und klassischen Zitaten. Nach einem Tag mit ihr fühlte sich ein Reporter des Sunday Times Magazine »wie ein Fiat Punto neben einem Ferrari«.

»Schmeckt Ihr Kaffee eigentlich auch so scheußlich?«, fragt Greenfield und springt auf, um im Airport-Café eine Flasche Mineralwasser zu besorgen (»Zum Ausspülen«). Eine halbe Minute später ist sie wieder da. Mit ihrem wehenden blonden Pferdeschwanz, den eng anliegenden Designerjeans und ihren Leder-Boots sieht die Oxford-Professorin auf den ersten Blick wie eine ihrer Studentinnen aus.

Seit 1994 ist sie ein Star. Damals hielt sie – als erste Frau nach 165 Jahren – die traditionelle Weihnachtsvorlesung der Royal Institution. Greenfield lud ein zu einer faszinierenden Rundreise durch das menschliche Gehirn. Man lernte, dass Nervensignale mit Tempo 360 im Schädel herumsausen und dass die neuronalen Verschaltungen im Hirn so zahlreich und vielfältig sind wie die Blätter im Dschungel des Amazonas. Die BBC übertrug live. Seither erkennt man sie im Supermarkt.

Die Liste ihrer Erfolge, Ämter und Ehrungen ist lang: Direktorin der Royal Institution – als erste Frau überhaupt; Mitglied im britischen House of Lords; Orden der französischen Ehrenlegion; Gründerin von vier Bio-Tech-Start-ups; Autorin von acht Bestsellern über das Gehirn und 170 Fachaufsätzen. Ihre Entdeckung der besonderen Rolle, die das Enzym Acetylcholinesterase (AChE) bei der Zerstörung von Zellen spielt, gilt als wichtiger Ansatz zur Bekämpfung von Hirnkrankheiten wie Alzheimer oder Parkinson. Der britische TV-Sender Channel 4, der im Juni einen Wissenschaftler-Wettbewerb à la Deutschland sucht den Superstar veranstaltet, erklärt das Prinzip seiner Show famelab mit »Wir suchen die nächste Susan Greenfield«. Auf dem World Economic Forum im Februar in Davos hielt sie vor der internationalen Finanz- und Polit-Elite fünf Vorträge in drei Tagen. Das Magazin Harpers&Queens führt sie in der Liste der »50 inspirierendsten Frauen der Welt« auf Platz 14. »Nun ja«, meint Greenfield, »Dolly Parton liegt auf Platz 9.«

Das »Weib im Minirock« liebt den Kampf mit offenem Visier

Als Greenfield 1998 zur Direktorin der Royal Institution berufen wird, verkündet sie öffentlich ihren Traum: dass die Menschen zu wissenschaftlichen Symposien gehen wie zu einem Kino- oder Theaterbesuch. Die 200 Jahre alte Royal Institution, ein fächerübergreifendes Lehr- und Forschungszentrum, hat sich der Devise »Wissenschaft fürs Volk« verschrieben. Gerade richtet Greenfield dort einen »Science Salon« ein, in dem sich Wissenschaft, Kunst, Politik, Wirtschaft und Popkultur begegnen sollen. Ob Klima, Reproduktion oder Genfood – die Wissenschaft, verlangt sie, müsse allen Menschen offen stehen und helfen, die wichtigen Fragen der Zeit zu beantworten.

»Noch immer herrscht der Glaube, der Wissenschaftler sollte in völliger Abgeschiedenheit forschen und darüber Fachaufsätze in Fachzeitschriften für Fachleute veröffentlichen«, sagt Greenfield. »Ich halte das für eine extrem selbstsüchtige Sicht. Unsere Arbeit wird vom Steuerzahler finanziert; wir müssen ihm auch erklären, was wir tun.« Als »Thinker in residence« (»Klingt wunderbar, nicht?«) lebte sie einige Monate lang an der Universität Adelaide, Australien. »Dort werden Tage der offenen Tür veranstaltet, an denen jeder Vorträge hören oder Experimente beobachten kann. Lehrer und Wissenschaftler treffen sich regelmäßig und besprechen, wie man aktuelle Forschungsergebnisse in den Schulunterricht einbezieht. Leider sind hierzulande die meisten Wissenschaftler zu arrogant für einen solchen Dialog. Angeblich nimmt das zu viel Zeit für die Forschung weg.«

Greenfield liebt den Kampf mit offenem Visier. In einem Bericht für die britische Regierung prangerte sie die Diskriminierung des weiblichen Nachwuchses im Wissenschaftsbetrieb an. Sie verurteilt die Idee einiger britischer Universitäten, israelische Wissenschaftler wegen der Palästina-Politik ihrer Regierung zu boykottieren, als »Schande«. Und sie posiert in Vogue und dem Klatschmagazin Hello.

Dass man sich mit derlei öffentlichen Auftritten im Wissenschaftsbetrieb nicht nur Freunde macht, bekommt sie alljährlich im Sommer zu spüren, wenn die Royal Society ihre neuen Mitglieder kürt. Eigentlich, so lauten die Statuten der wichtigsten Akademie des Landes, sollen Frauen und Männer berufen werden, die sich »um die Popularisierung der Wissenschaften verdient gemacht« haben. Nach Ansicht der professoralen Elite Großbritanniens gehört ausgerechnet Baroness Greenfield nicht dazu. Im Vorjahr streuten anonyme Herren aus der Royal Society, sie würden ihre Mitgliedschaft niederlegen, sollte dieses »Weib im Minirock« in ihren erlauchten Kreis aufgenommen werden. Als die 44 neuen Mitglieder feststanden, fehlte der Name Greenfield. Und auch in diesem Jahr scheint es wieder nichts zu werden mit der letzten großen Ehrung, die ihr noch fehlt.

Schon die Studentin wollte Fakten: Wie entsteht Bewusstsein?

»Natürlich verletzt mich so etwas«, sagt Greenfield. »Vor allem, weil meine Gegner sich nicht zu erkennen geben.« Ihr Erzähltempo sinkt deutlich bei diesem Thema. »Vielleicht hat jemand ein Problem mit einer blonden Frau, die manchmal einen Minirock trägt. Aber ich denke nicht eine Minute daran, mich zu ändern.«

Vor mehr als 30 Jahren stand sie, die kettenrauchende Psychologie- und Philosophiestudentin aus kleinen Verhältnissen, im Büro des Oxforder Biochemikers und Neurowissenschaftlers David Smith und teilte ihm mit, dass sie alles über das Gehirn lernen wolle, was man wissen kann. Das ewige Theoretisieren der Geisteswissenschaften langweile sie. Sie brauche Fakten. Dass sie ambitioniert war, machte die junge Studentin dem Professor auch gleich klar: Im Übrigen dächten er, Professor Smith, und seine Kollegen viel zu klein. »Die Frage ist doch«, belehrte Greenfield den Forscher, »wie entsteht unser Bewusstsein, und warum ist es bei jedem Menschen anders?« Professor Smith befiel eine Mischung aus Empörung und Neugier. Diese Fragen hatte er sich in der Tat noch nicht gestellt.

Ohne jeden naturwissenschaftlichen Hintergrund wurde Susan Greenfield in das Doktorandenprogramm des Fachbereichs Neurowissenschaften aufgenommen. »Mir war klar, dass ich doppelt so hart arbeiten musste wie alle anderen.« Zu ihrer althumanistischen Bildung kamen jetzt Biochemie, Physik, Labortechnik und dergleichen dazu. Sie schaffte den Abschluss und startete ihre eindrucksvolle akademische Karriere – ohne das Geheimnis, das sie ins Büro von Professor Smith getrieben hatte, gelöst zu haben. »Wir wissen heute weniger darüber, wie das Gehirn funktioniert, als wir vor 20 Jahren glaubten«, hat Wolf Singer, der einflussreichste deutsche Neurowissenschaftler, gerade erst formuliert (ZEIT Nr. 11/05: Denker des Denkens). Da ist Greenfield mal einverstanden. »Mit jeder Erkenntnis kommen hundert neue Fragen dazu«, sagt sie.

Mindestens zwei volle Tage ihrer Woche gehören derzeit dem Centre for the Science of the Mind. Ein interdisziplinäres Forschungsprojekt unter ihrer Leitung, für das Susan Greenfield zwei Millionen Dollar private Fördergelder eingesammelt hat. Gemeinsam analysieren Wissenschaftler aus den Bereichen Pharmakologie, Anatomie, Physiologie, Neurowissenschaften, Theologie und Philosophie den Einfluss des Glaubens auf das menschliche Gehirn. »Wir foltern Muslime«, beschreibt Greenfield die Forschungsarbeit. »Das konnte man jedenfalls in der Zeitung lesen. Aber ich versichere Ihnen, unsere Experimente sind eher harmlos.« Testpersonen aller Glaubensrichtungen werden Bilder und Symbole mit religiösen Motiven gezeigt. Dabei reiben sie ihre Finger in einer leicht brennenden Chilipaste. »Wir untersuchen, ob im Gehirn sehr gläubiger Menschen bei Schmerz besondere Prozesse ablaufen. Für uns geht es um die Frage, warum dieselben äußeren Reize bei verschiedenen Menschen völlig unterschiedliche Empfindungen hervorrufen.«

Als Tochter eines jüdischen Elektrikers und einer protestantischen Tänzerin wurde Susan Greenfield betont säkular erzogen. »Ich durfte nicht einmal zu den Pfadfinderinnen.« Eine Zeit lang trug sie als junges Mädchen eine Kette mit einem Kreuz und einem Davidstern um den Hals. Man kann nie wissen. »Ich bin kein religiöser Mensch. Aber der Glauben verleiht vielen ein Gefühl von Souveränität und Sinn. Es wäre arrogant, das als Wissenschaftler nicht zu respektieren. Gerade jetzt.«

In ihrem jüngsten Buch Tomorrow’s People spekuliert Greenfield darüber, wie fundamental die Technologie des 21. Jahrhunderts das Denken und Fühlen des Menschen verändern könnte. Sie entwirft das Szenario einer Menschheit, die eine maßgeschneiderte, beinahe unsichtbare Technologie in einen Zustand permanenter Sinnenreize entführt; diese Welt ist voller virtueller Gefährten und digitaler Diener. Greenfield beschreibt die Verschmelzung von künstlichen und natürlichen Kreisläufen im Gehirn; die Entwicklung von Designermolekülen, mit denen wir unsere Persönlichkeit verändern: Lifestyle-Neutrozeutika für mehr Sex-Appeal, höheren IQ und dauerhaft gute Laune. »Das menschliche Gehirn ist keine unantastbare Größe mehr. Wir halten den Schlüssel zur Veränderung des Bewusstseins, zur Erosion des Individuums in der Hand.«

Vor vielen Jahren nahm Susan Greenfield zum ersten Mal ein menschliches Gehirn zur Untersuchung aus einer Plastikbox. Ein graues schwabbeliges Etwas, das nach Formaldehyd stank. »Ich dachte: Das war also ein Mensch«, erzählt sie. »Und ich fragte mich, ob das, was man hinterher unter den Fingernägeln hat, vielleicht der Sitz einer ganz besonderen, einzigartigen Erinnerung war.«

Neun Uhr vorbei. Susan Greenfield eilt in die Abflughalle. Brasilien, Australien, Israel, wohin auch immer. Sie wird überall gebraucht. Aus ihrer Handtasche blitzen der New Scientist und die britische Vogue. Als sie in der Schleuse verschwunden ist, erscheint der Flughafen plötzlich sehr still.






Der Mensch ...
Susan A. Greenfield, 1950 in London geboren, besuchte ein althumanistisches Mädchen-gymnasium, studierte zunächst Psychologie in Oxford und sattelte dann um auf Pharmakologie, Bereich Neurowissenschaft. Die Universität Oxford berief sie 1996 zur Professorin für Pharmakologie. Seit 1998 ist sie zudem Direktorin der Royal Institution. Greenfield schrieb Bücher über Hirnforschung, erstellte Doku-Serien für die BBC. Der inzwischen zur Baroness geadelte Medienstar sitzt seit dem Jahr 2000 im britischen House of Lords.

... und seine Idee
Susan Greenfields große Leidenschaft gilt dem Kampf gegen die Alzheimer-Krankheit und der Popularisierung der Wissenschaft. Damit Bürger bei ethischen Grundsatzfragen entscheiden können, müssten Wissenschaftler für Transparenz ihrer Arbeit sorgen. Die Erfolge der Forschung sollen die Welt zu einem besseren Ort machen; das ist ihr Motto. Ihre Befürchtung: Unkontrollierter Fortschritt in Neuroforschung und Pharmazie eröffnen Manipulationsmöglichkeiten, die letztlich die persönliche Individualität zerstören könnten.

(c) DIE ZEIT 25.05.2005 Nr.22


Backward Forward Post Reply List
http://theology.co.kr