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Warum Menschen glauben





DIE ZEIT


20/2005  


Warum Menschen glauben

Wissenschaftler versuchen, die Kraft der Religion zu erklären – mit Hirnströmen und Gottes-Genen

Von Ulrich Schnabel

Man nennt es das Wunder von Boston und feiert es als ersten Nachweis, dass sich spirituelle Ekstase im Labor erzeugen lasse. Und es gilt – eine Zeit lang – als bestes Beispiel für eine unvoreingenommene wissenschaftliche Untersuchung religiösen Glaubens: Mitte der sechziger Jahre weist der Arzt und Theologe Walter Pahnke an der Harvard University nach, dass die Droge Psilocybin spirituelle Erfahrungen während eines Gottesdienstes fördert. Seine Probanden, Schüler eines theologischen Seminars, wohnen unter Drogeneinfluss einer Messe bei.

Zweieinhalb Stunden lang hören sie Predigten und Musik, beten und meditieren. Danach berichten sie von starken Einheits- und Transzendenzerlebnissen, von tiefempfundener Freude und Liebe, Gefühlen der Heiligkeit, der Vergänglichkeit und eines allumfassenden Friedens. Die segensreichen Erfahrungen sind im Vergleich mit einer unberauschten Kontrollgruppe nicht nur statistisch signifikant nachweisbar; sie führen auch – wie spätere Untersuchungen ergeben – bei acht von zehn Versuchspersonen zu tiefgreifenden, dauerhaften Bewusstseinsänderungen. Dank dieser Methode, triumphiert Pahnke, könne man endlich »mystische Erlebnisse wissenschaftlich im Labor reproduzieren und untersuchen«.

Ist das Blasphemie? Darf man, kann man die intime Frage nach dem Heiligen ins grelle Licht der Laborlampen zerren? Vielen erscheinen solche Experimente im besten Fall zweifelhaft, im schlimmsten Fall ketzerisch. Sind nicht spirituelle Erlebnisse etwas höchst Subjektives, geradezu Intimes, über das sich kaum objektive, allgemein gültige Aussagen treffen lassen? Verweist der religiöse Glaube nicht auf ein Reich jenseits dieser Welt, dem mit rationaler Forschung nicht beizukommen ist?

In der Tat betritt, wer sich wissenschaftlich mit spirituellen Fragen beschäftigt, heikles Terrain. Das Problem ist nicht so sehr die Unfassbarkeit des Allmächtigen, sondern eher die Tatsache, dass wir dem Glauben nirgendwo entkommen – selbst in der Wissenschaft nicht.

Das muss auch Pahnke erfahren. Zwar hat er sein Experiment nach bestem Gewissen geplant; hat die Droge – 30 Milligramm Psilocybin – zufällig und nach dem Doppelblindverfahren verteilt und der Kontrollgruppe harmlose Pillen verabreicht, die unspezifische Reizzustände hervorrufen. Alle Teilnehmer scheinen dieselben Versuchsbedingungen zu haben.

Doch später stellt sich heraus, dass die Seminaristen während des Gottesdienstes miteinander gesprochen haben. So merkten sie, wer von ihnen gedopt war und wer nüchtern der Predigt lauschte. Damit fällt im Nachhinein das Experiment in sich zusammen. Denn es ist nicht mehr zu unterscheiden, ob allein das Psilocybin den heiligen Schub bewirkt hat – oder ob dafür auch die Erwartungshaltung der Seminaristen, ihr Glaube an eine rauschhafte Bewusstseinsveränderung, verantwortlich ist.

Für die zweite These scheint auch das Erleben jenes Probanden zu sprechen, der zwar die Droge erhalten hat, aber – anders als seine Kollegen – keinerlei religiöse Vorbereitungen für das Experiment traf. Bei ihm blieben die mystischen Erfahrungen prompt aus. Das religiöse Empfinden, so muss man daraus schließen, hängt entscheidend vom sozialen Umfeld und der jeweiligen Einstellung ab. Eine isolierte Betrachtung unter kontrollierten Versuchsbedingungen ist damit kaum möglich.

Der Fehlschlag hat die Wissenschaft nicht entmutigt. Noch immer versuchen Forscher der verschiedensten Disziplinen, das Numinose im Labor einzufangen. Neurobiologen schieben betende Nonnen in den Kernspintomografen, Ärzte studieren die gesundheitsfördernde Wirkung von Gebeten, und Molekularbiologen suchen nach dem »Gottes-Gen«. Die Frage nach der Existenz des Allmächtigen ließ sich so allerdings bislang nicht klären. Eine höhere Ordnung, die per definitionem die menschliche Vernunft übersteigt, lässt sich mit vernünftigen Mitteln nun einmal weder zwingend beweisen noch widerlegen. Die Gottesfrage führt die Wissenschaft sozusagen in einen Teufelskreis: Auch wer Gott ablehnt, glaubt nur, dass Gott nicht existiert.

Dennoch erlauben diese Forschungen Einblicke in das irdische Wirken der sozialen und psychologischen Mechanismen religiöser Systeme. Die Religionspsychologie weiß schon lange, wie man größtmögliche spirituelle Wirkung erzielt: Vergleicht man verschiedene Arten von Gottesdiensten, dann beeindrucken jene am meisten, die auf Gefühle und stimmungsvolle Musik setzen; jene hingegen, die abstrakte Betrachtungen über Moral oder die Natur des Universums in den Mittelpunkt stellen, schneiden bei Befragungen ganz schlecht ab. So gesehen, ist die weltweite Aufregung um den alten und neuen Papst wenig erstaunlich: Mit seinem mittelalterlichen Zeremoniell bietet der Vatikan eben auch eine gute Vorführung fürs Gemüt.

Auch in der Medienöffentlichkeit kommen große Emotionen und vermeintliche Sensationen besser an als nüchterne Deutungen. So erregte vor Jahren die so genannte Neurotheologie Aufsehen. Hirnforscher behaupteten, den Erleuchtungszustand meditierender Mönche und betender Nonnen an spezifischen Hirnveränderungen ablesen zu können. Bei näherem Hinsehen erwiesen sich die experimentellen Befunde allerdings als dürftig und wenig aussagekräftig (ZEIT Nr. 11/02). Behaupten Naturwissenschaftler, Religion zu erklären, komme häufig »zweitklassige Wissenschaft, gepaart mit drittklassiger Philosophie«, heraus, ärgert sich die Autorin Margaret Wertheim.

Gilt das drastische Urteil der Physikerin auch für den jüngsten Schrei der Spiritualitätsforschung, das Gottes-Gen? Unter diesem Titel hat der amerikanische Molekularbiologe Dean Hamer vor einigen Monaten ein Buch veröffentlicht, dessen Inhalt prompt zur Titelgeschichte des Time-Magazins avancierte. Hamer, immerhin Chef einer Genforschungsabteilung im National Cancer Institute, behauptet darin, die Fähigkeit zum religiösen Glauben sei in den Genen verortet und damit erblich.

Er stützt sich dabei auf die Untersuchung von über tausend Versuchspersonen, die im Rahmen einer Raucherstudie einen umfangreichen Fragekatalog ausfüllten. Dabei wurden auch 240 »Transzendenz-Aussagen« abgefragt, zum Beispiel: »Ich fühle mich den Menschen um mich herum so verbunden, dass es oft keine Trennung zwischen uns zu geben scheint.« Oder: »Häufig habe ich unerwartete Eingebungen, während ich entspanne.« Aus den Ja/Nein-Antworten leitete Hamer ein Maß für die Spiritualität der Probanden ab. Dann verglich er diese Ergebnisse mit separat erhobenen Daten aus dem Erbgut der Versuchspersonen. Und siehe: Als er sich auf neun Gene konzentrierte, die für die Produktion von Botenstoffen im Gehirn zuständig sind, wurde der Suchende fündig. Eine Variante des Gens VMAT2 scheint exakt mit der Punktezahl zu korrelieren, die der jeweilige Genträger im Spiritualitätstest erzielt hat! »Eine einzige Änderung in einer bestimmten chemischen Base in der Mitte des Gens scheint direkt verknüpft mit der Fähigkeit, sich selbst zu transzendieren«, triumphiert Hamer. Zeit für ein molekularbiologisches Halleluja?

Wohl kaum. Der Forscher scheint eher dem eigenen Glauben an die Macht der Gene aufgesessen zu sein. Einmal abgesehen von der Frage, ob sich mit einem simplen Fragebogen das Transzendenzpotenzial eines Menschen erheben lässt, hat Hamer nicht mehr gefunden als eine Korrelation zwischen zwei Datensätzen. Ein solches statistisches Muster sagt aber noch nichts über einen ursächlichen Zusammenhang aus – genauso wenig, wie eine Korrelation zwischen der Geburtenrate in Deutschland und der abnehmenden Zahl der Störche Aufschluss über eine bessere Familienpolitik gäbe.

Richtig ist zwar, dass das VMAT2-Gen mit darüber bestimmt, wie viele Moleküle einer bestimmten Gruppe von Botenstoffen durch das Hirn zirkulieren. Erhöhte oder verringerte Mengen dieser Signalstoffe wie Dopamin, Serotonin oder Noradrenalin können massive Änderungen von Bewusstseinszuständen herbeiführen. Darauf beruht der halluzinogene Effekt von Drogen wie Ecstasy und LSD, aber auch von Wirkstoffen, die bei traditionellen religiösen Zeremonien verwendet werden.

Doch ungeachtet seines plakativen Buchtitels, räumt selbst Hamer ein, dass komplexe menschliche Eigenschaften (zu der die Fähigkeit zur Transzendenz zweifellos gehört) vermutlich von Hunderten oder gar Tausenden Genen gesteuert werden, gar nicht zu reden von den Umwelteinflüssen, die in das komplizierte Ballett der Gene und Proteine eingreifen. Ein einzelnes Gottes-Gen ist daher ebenso unwahrscheinlich wie das »Schwulen-Gen«, das Dean Hamer vor Jahren gefunden zu haben glaubte. Noch gibt es keinen Anlass zu der Hoffnung (oder Befürchtung), die Unio mystica mit Gott ließe sich mit einer kleinen Erbgutmanipulation steuern.

Beachtung verdient allerdings die (schwächere) These, dass die Erbanlagen unser grundsätzliches Interesse an spirituellen Fragen (zumindest zum Teil) bestimmen. Das legen Zwillingsstudien nahe, die der Psychologe Thomas Bouchard in den achtziger Jahren durchführte. Er befragte erwachsene Zwillinge, die bei der Geburt getrennt worden und in verschiedenen Elternhäusern aufgewachsen waren. Sie zeigten eine verblüffende Übereinstimmung in religiösen Fragen und spirituellen Erfahrungen. Bei eineiigen Zwillingen (mit identischer Gen-Ausstattung) ist die Übereinstimmung signifikant höher als bei zweieiigen. Das deutet für Bouchard darauf hin, dass die prinzipielle Neigung zu religiösen Gefühlen in unserem Erbgut verankert ist. Geht es allerdings um das Engagement in kirchlichen Organisationen, unterscheiden sich die jeweiligen Zwillinge zum Teil drastisch. Die Ausprägung unseres Glaubens, schließt Bouchard, scheint also kulturell beeinflusst.

Offenbar bot der Glaube an höhere Mächte einen evolutionären Vorteil

Zu ähnlichen Schlüssen kommen Evolutionspsychologen und Anthropologen. Sie verweisen auf die Tatsache, dass die Menschheit während ihrer Entwicklungsgeschichte stets zur Bildung religiöser Strukturen neigte. Offenbar muss der Glaube an (wie auch immer geartete) höhere Mächte einen Evolutionsvorteil geboten haben; sonst hätte die Spiritualität längst aussterben müssen. Davon kann aber bis heute keine Rede sein. Auch im säkularen Zeitalter nehmen weltweit – mit Ausnahme von Europa – religiöse Strömungen entscheidenden Einfluss; selbst hierzulande wird neuerdings die »Rückkehr der Religionen« beschworen. Offenbar erweist sich, evolutionsbiologisch gesprochen, die Vorstellung einer höheren, transzendenten Wirklichkeit als wirksamer Faktor im Überlebenskampf.

Eine solch relativierende Betrachtung ist gläubigen Menschen zutiefst suspekt. Doch die Anthropologie kann eine Reihe guter Argumente anführen: Angesichts der unausweichlichen Tatsache, dass wir alle sterben müssen, verheißt der Glaube an eine transzendente Wirklichkeit individuellen Trost; zugleich erlaubt er die Durchsetzung verbindlicher ethischer Standards und sichert so die Stabilität von Gesellschaften. Und schließlich lässt sich mit religiösen Argumenten Macht begründen und durchsetzen – auch das sichert das eigene Überleben.

Angesichts eines erstarkenden Islams und des Vormarsches charismatischer oder »pfingstkirchlicher« Bewegungen in Lateinamerika und Afrika, wünschte man sich dringend nähere Studien zur politischen und soziologischen Wirkung der diversen religiösen Gemeinschaften. Doch eine unvoreingenommene Religionsforschung hat es nicht leicht. An deutschen Universitäten gibt es keinen einzigen Lehrstuhl für Religionspsychologie. Dafür verteidigt die Theologie, streng nach Konfessionen getrennt, ihre Deutungshoheit. Mehrere Dutzend Professoren studieren das Alte Testament und beackern damit ein Forschungsfeld, auf dem innovative Erkenntnisse kaum zu erwarten sind. »Viele aktuelle Entwicklungen aber werden an den theologischen Fakultäten gar nicht erfasst«, wundert sich der Religionswissenschaftler und Psychologe Sebastian Murken von der Universität Trier.

Um dem etwas entgegenzusetzen, hat er am Trierer Forschungszentrum für Psychobiologie und Psychosomatik eine Arbeitsgruppe Religionspsychologie gegründet, die seit 2002 von der VW-Stiftung mit gut 1,2 Millionen Euro gefördert wird. Für deutsche Verhältnisse ist dieser Etat beachtlich. Doch er ist nur ein Almosen, verglichen mit dem Geldsegen, der in den USA herniedergeht. Mit rund 40 Millionen Dollar pro Jahr finanziert dort die John Templeton Foundation Studien, die dem Ziel dienen, Wissenschaft und Religion miteinander zu versöhnen. Der »Templeton-Preis für den Fortschritt in der Religion« ist mit 1,3 Millionen Dollar höher dotiert als der Nobelpreis. Die 1987 von dem Aktienmakler Sir John Templeton gegründete Stiftung ist der größte Geldgeber auf dem Markt der Sinnstiftungsforschung und nimmt massiv Einfluss. Gefördert werden Projekte, die einen positiven Nutzen religiöser Lebensführung nachzuweisen versuchen. Anträge von Forschern, die auch die Schattenseiten der Gläubigkeit mit einbeziehen, sind weniger willkommen. Auf diese Weise steuert die Stiftung in den USA geschickt die öffentliche Ansicht über Religionsfragen. Selbst in Deutschland fassen die Templeton-Ritter Fuß. Stolz vermeldet soeben die Universität Frankfurt die Einwerbung von 400000 Dollar für ein »Templeton-Forschungskomitee«, das sich in den kommenden Jahren mit der Frage beschäftigen wolle, ob es eine biologische Basis für den Glauben gibt. Auf das Ergebnis darf man gespannt sein.

Diese Förderung hat eine Flut wissenschaftlicher Artikel hervorgebracht, die angeblich gesundheitsfördernde Wirkungen der Spiritualität belegen: Wer regelmäßig in den Gottesdienst gehe, leide seltener an Herz- und Kreislaufkrankheiten, habe einen niedrigeren Blutdruck und lebe bis zu sieben Jahre länger als Ungläubige. Selbst die Wirkung von Fürbitte-Gebeten lässt sich scheinbar nachweisen. Glaubwürdigkeit gewinnen solche Studien oft durch das Gütesiegel renommierter Institute und den Abdruck in angesehenen Fachzeitschriften.

Doch im Detail steckt bekanntlich der Teufel: Mal sind an den Studien nur ein, zwei Dutzend Personen beteiligt – zu wenige, um aussagekräftige Ergebnisse zu erzeugen. Mal beruhen die vermeintlichen Wirkungen auf rein subjektiven Kriterien und damit auf dem Urteil der Auswerter – »das ist so überzeugend, wie wenn ein Scharfschütze auf eine Scheune schießt und dann die Zielscheibe um die Einschüsse malt«, lästert der Psychiater Richard Sloan von der Columbia University. Und selbst wenn das Studiendesign nach bestem Wissen und Gewissen erstellt ist, können – wie in der eingangs erwähnten Psilocybin-Studie von Walter Pahnke – subtile Einflüsse das Ergebnis verfälschen.

Dass die Erwartung von Patienten massiven Einfluss auf den Verlauf einer Krankheit hat, weiß man auch aus der Placebo-Forschung. Große rote Pillen wirken stärker als kleine weiße, neue Medikamente besser als bekannte, und am größten ist die Wirkung, wenn auch der Arzt dem angeblichen Wirkstoff vertraut – selbst wenn es sich nur um eine schlichte Zuckerpille handelt. Wie groß muss der Einfluss des Suggestivdenkens erst sein, wenn rein geistige Mittel auf die Probe gestellt werden?

Viele der religionsmedizinischen Studien sagen mehr über den Glauben der Beteiligten als über objektive Wirkungen aus: Christlich eingestellte Mediziner dokumentieren die Fernwirkung von Gebeten, Forscher der »Maharishi University« in Fairfield, Iowa, beweisen die förderliche Wirkung Transzendentaler Meditation; und der dem Dalai Lama eng verbundene Neuroforscher Richard Davidson weist nach, dass Buddhisten besonders zufrieden und ausgeglichen seien.

Vorurteilsfreie Studien fehlen. Genesen Buddhisten schneller vom Infarkt als Katholiken? Leiden Hindus weniger unter Depressionen als Juden? Höchstwahrscheinlich stellte sich bei der Beantwortung solcher Fragen heraus, dass Glaubenseffekte auf ziemlich irdische Ursachen zurückgehen: Wer frühmorgens in den Gottesdienst geht, sitzt abends weniger lange in der Kneipe; wer sich in einer religiösen Gemeinschaft engagiert, befolgt nicht nur medizinisch sinnvolle Verhaltensregeln, sondern fühlt sich auch sozial aufgehoben und weniger isoliert; und wer auf höhere Mächte vertraut, fühlt sich nicht für jeden Fehlschlag selbst verantwortlich. Insofern hat der Korintherbrief schon Recht: Glaube kann tatsächlich Berge versetzen. Ob man darin aber das Wirken eines höheren Wesens erkennt oder die Effekte auf soziale Faktoren und psychische Dispositionen zurückführt, hängt wiederum – ganz recht – vom Glauben des Interpreten ab.

Um einen möglichst unvoreingenommenen Zugang bemüht sich daher die AG Religionspsychologie um Sebastian Murken. Die Forscher haben in der Onkologischen Rehabilitationsklinik in Bad Kreuznach selbst eine Studie zur Rolle der Religiosität bei der Bewältigung von Brustkrebs durchgeführt. Das Ergebnis dürfte der Templeton Foundation nicht rundum gefallen. Murken hat festgestellt, dass Religion nur unter bestimmten Bedingungen hilft. Eine Stütze im Glauben fanden nur Patientinnen, die hochreligiös waren und ein positives Gottesbild hatten. Nach dem Motto »Was der Herr tut, ist wohlgetan«, konnten sie selbst ihrer Krankheit einen positiven Sinn abgewinnen. Wer dagegen das Bild eines strengen, strafenden Gottes im Herzen trug, litt in der Klinik verstärkt unter Angst- und Depressionszuständen. Und die Vertreter einer »mittleren Alltagsreligiosität« waren in der Klinik vor allem von Verunsicherung und Zweifeln geplagt. »Eine Religion hilft vor allem denen, die stark daran glauben, dass sie ihnen hilft«, folgert Murken.

Dahinter steckt für Murken mehr als nur eine Art religiöser Placebo-Effekt. Er favorisiert einen therapeutischen Ansatz nach Art der Anonymen Alkoholiker. Deren berühmtes Zwölf-Schritte-Programm benutzt zwar ebenfalls religiöse Mechanismen, setzt aber keinen bestimmten konfessionellen Glauben voraus. So heißt es im ersten Schritt: »Wir geben zu, dass wir dem Alkohol gegenüber machtlos sind – und unser Leben nicht mehr meistern können.« Und darauf folgt der Entschluss, »unseren Willen und unser Leben der Sorge Gottes – so wie wir ihn verstehen – anzuvertrauen«.

Den Erfolg dieses Genesungsprogramms hat Murken nachgewiesen. Der Glaube an eine »höhere Macht« wird von den Alkoholikern tatsächlich als entlastend und hilfreich empfunden – die Natur dieser »Macht« ist von untergeordneter Bedeutung. Manche vertrauen auf den Christengott, andere schöpfen ihre Kraft für den Entzug aus der höheren Macht der Gruppe, die sie besuchen.

Von einer »kleinen Transzendenz« spricht Murken in diesem Zusammenhang: »Wichtig ist, dass man das ständige Kreisen um das eigene Ich aufgibt. Die Vorstellung, wir müssten alles aus eigener Kraft schaffen, erzeugt einen unheimlichen Leistungs- und Erwartungsdruck, der wenig hilfreich ist.« Statt Selbstverwirklichung und Ich-Findung ist daher für Murken vor allem »Ego-Deflation« angesagt. »Wir müssen von uns selbst als Nabel der Welt wegkommen und einsehen, dass wir auch nur ein Staubkorn im Weltall sind.«

Wir müssen unsere Wirklichkeit selbst konstruieren. Ein göttlicher Plan hilft

Vielleicht ist ja dieses »Sich-ins-Verhältnis-Setzen«, das »Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit«, wie es der Theologe Friedrich Schleiermacher nannte, der Kern jedes Glaubens. Wer sich so als Puzzlestein in einem höheren Plan versteht, erlebt zwar dasselbe Auf und Ab des Lebens wie jeder andere auch – aber er interpretiert es völlig anders. »Die Hirnforschung lehrt uns zwar heute, dass jeder von uns seine Wirklichkeit in gewisser Weise selbst konstruieren muss, aber sie erklärt nicht, wie wir dies tun sollen, wie wir auf die Grundfragen des Lebens – Woher komm ich, wohin geh ich, wofür ist das alles gut? – antworten sollen«, sagt Murken. Zur Füllung dieser Leerstelle, prognostiziert er, werden auch weiterhin religiöse Glaubensgebäude unabdingbar sein.

Umso wichtiger wäre es, solche Phänomene auch in der Wissenschaft ernster zu nehmen. Man wünscht sich nicht nur eine Überprüfung allzu gutgläubiger Medizinstudien, sondern auch von Thesen wie der des Anthropologen Richard Sosis, der in der Zeitschrift Gehirn & Geist kürzlich die Auffassung vertrat, religiöse Gemeinschaften hätten umso mehr Erfolg, je restriktiver ihre Dogmen und Anforderungen seien. Solche Fragen sind auch politisch brisant. Wäre es da nicht an der Zeit, Einrichtungen wie der Templeton Foundation etwas entgegenzusetzen? Man wünschte sich in Deutschland ein unabhängiges Religionsforschungszentrum. Oder zumindest die Einrichtung eines Sonderforschungsbereichs, in dem nicht nur theologische, sondern auch psychologische, soziologische und ökonomische Aspekte der Religion in den Blick genommen werden.

Auch in Glaubensdingen muss man schließlich nicht alles blind glauben.

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