DW AltaVista Translation


2005/09/17 (08:12) from 129.206.196.140' of 129.206.196.140' Article Number : 250
Delete Modify Spiegel Access : 1598 , Lines : 74
»Lass die Heiligkeit weg«
Download : lehmann_300.jpg (36 Kbytes)

lehmann_300.jpg





DIE ZEIT


38/2005  

»Lass die Heiligkeit weg«

Ein Gespräch mit dem Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Karl Kardinal Lehmann, über gute und schlechte Religion, eine vierzigjährige Duzfreundschaft mit Joseph Ratzinger und seine persönliche Wahlentscheidung


DIE ZEIT: Herr Kardinal, erst die Wunderwochen von Rom, in denen die Welt um Papst Johannes Paul II. trauerte und seinen Nachfolger begrüßte, dann der Kölner Weltjugendtag, wo Hunderttausende Benedikt XVI. gefeiert haben – gibt es nicht nur global, sondern auch bei uns in Deutschland eine Wiederkehr des Religiösen?

Karl Kardinal Lehmann: Das ungeschriebene Dogma von Jahrzehnten, dass ein unaufhaltsamer, unumkehrbarer Prozess der Säkularisierung stattfindet, ist erschüttert. Der 11. September und andere Katastrophen, bis in die jüngste Zeit, haben viele wieder vor die Urfragen gestellt: Was ist der Mensch, woher kommt er, woher kommt die Gewalt, was ist der Sinn des Lebens, auch des Scheiterns, was ist der Tod? Da ist manches zum Erwachen gekommen, aufgebrochen, was wie im Schlaf lag, tief verschüttet. Nur darf man sich nichts vormachen, dies alles ist sehr ereignishaft und besagt noch nichts von Dauer. Es findet sich in dieser Wiederkehr des Religiösen freilich auch höchst Problematisches, zum Beispiel Aberglauben, Satanskulte – Religion ist in den Augen des Glaubens nicht einfach schon gut, weil sie Religion ist.

ZEIT: Wie unterscheiden Sie denn gute und schlechte Religion?

Lehmann: Zuerst geht es um das Verhältnis von Religion und Freiheit. Eine Religion, die den Menschen nicht befreit, sondern neu knechtet, kann nur bekämpft werden. Das Zweite ist die Beziehung von Religion und Gewalt: Jede Religion muss sich fragen, ob sie etwa einen Gott hat, der letzten Endes identisch wird mit Gewaltausübung – und wie dieser Gott sich zum Leid verhält. Das Dritte ist der Zusammenhang von Religion und Ethos, und zwar nicht nur kollektiv, wobei meist den anderen gesagt wird, wie sie leben sollen, sondern individuell, indem man sich fragt, welche Konsequenzen die Religion für das eigene Handeln hat. Diese Kriterien sollten wir vielleicht von der Kirche her noch stärker in den Vordergrund rücken und uns dann auch selbst fragen, wo wir Reste von Religion im schlechten Sinne mit uns herumschleppen.

ZEIT: Ist das Christentum zu unkritisch geworden gegenüber den anderen Religionen, besonders dem Islam?

Lehmann: Das glaube ich nicht. Die Gefahr im Dialog mit den Muslimen ist eher eine gewisse Oberflächlichkeit, auch weil wir, von ein paar Experten abgesehen, doch meist wenig Kenntnisse über den Islam haben. Der Probleme sind wir uns schon bewusst und finden zum Beispiel, dass, wenn man in Rom eine riesige Moschee bauen kann, es doch angemessen wäre, in Saudi-Arabien auch christlichen Gottesdienst feiern zu können. Ich selbst habe erlebt, wie schwierig es ist, mit den Verantwortlichen im Welt-Islamrat zu einem gemeinsamen Verständnis von Religionsfreiheit zu kommen. Es geht um Reziprozität bei der Gewähr der Menschenrechte.

ZEIT: Sie haben gleich von sich aus gesagt, was bei der Renaissance des Religiösen schief gehen kann. Da muss man ja schon fragen: Wo bleibt das Positive? Was kann man mit diesen Energien machen? Selbst viele Politiker fragen inzwischen danach.

Lehmann: Wir sind als Kirche davon ja nicht ganz überrascht: Es gibt im Menschen eine unauslöschliche Anlage, die nach verlässlichem Sinn sucht und sich auch nicht durch Ersatzbefriedigungen abspeisen lässt. Die Götzen und Idole stürzen am Ende vom Thron. Eine junge Generation findet nun offenbar auch einen viel unkomplizierteren, unmittelbareren Zugang zur Religion als viele Ältere. Formen des Glaubens, die vielleicht auch zu verkopft und intellektualisiert waren, bekommen ein emotionsgeladenes Gegengewicht. Das ist eine Korrektur, gewiss nicht ohne Gefahr. Ich habe es bei uns in den Gemeinden schon gemerkt, und die Weltjugendtage in Paris, Rom und Toronto waren noch einmal eine Schule, in der man sah, dass das ein weltweites Phänomen ist. Für die Kirche ist dies eine Ermutigung, sich mehr zuzutrauen und die große Öffentlichkeit nicht zu scheuen. Man muss diese etwas diffuse Religiosität einladen, sich zu differenzieren. Paulus etwa war außerordentlich kritisch gegenüber einem Enthusiasmus, der das Leid überfliegt; der glaubt, er sei schon im siebten Himmel. Er spricht aber auch selbst in gereinigter Form enthusiastisch. Meine Erfahrungen bei den Katechesen, den Bibelarbeiten, auf dem Weltjugendtag waren fulminant – eine Dreiviertelstunde konzentriertes Zuhören, die Fragen nicht modisch oder geschwätzig, sondern authentisch, auch offen für die Einsichten wissenschaftlicher Theologie. Das ist mehr als bloß Stimmung oder Rausch.

ZEIT: Auf dem Weltjugendtag konnte man sehen, was »katholisch« heißt: die Vielfalt der Nationen, die Universalität. Ist die Kirche in Deutschland, wo gern die »Konzernzentrale« im fernen Rom kritisiert wird, provinziell?

Lehmann: Ja, manchmal schon. Sicher hat man bei uns oft nicht verstanden, wie sehr Rom schon mit anderen Augen in das dritte Jahrtausend blickte, auf die halbe Milliarde Katholiken in Lateinamerika, auf die wirklich existenziellen Nöte in Afrika. Da muss man die eigenen Sorgen schon etwas relativieren. Andererseits bedeutet nun auch nicht jede deutsche Besonderheit, dass man provinziell ist. Die ökumenische Frage fordert uns hier ganz anders heraus als in Spanien, wo es eine kleine Minderheit Protestanten gibt, oder in Schweden mit seinen wenigen Katholiken. Und manchmal sind wir auch zu sehr allein gelassen worden. Als es etwa um das Problem ging, ob man wiederverheiratete Geschiedene in Ausnahmefällen zur Kommunion zulassen darf, da war das ja kein deutsches Sonderproblem. Ich war überrascht, wie viele meiner Kardinalskollegen im Umfeld des Konklaves dieses Thema neu angesprochen haben. Wir gelten in der Weltkirche nicht einfach als die glaubensschwachen Kultivierer von Luxusproblemen. Ich kenne einen eher etwas konservativen italienischen Kardinal, der mich fragte: »Wo sind denn heute eure theologischen Impulse? Wir brauchen sie!«

ZEIT: Es ist viel die Rede gewesen von den jungen Leuten, die dem Papst zujubeln und trotzdem die Pille nehmen. Das nennt man dann schnell Heuchelei oder Inkonsequenz. Vielleicht kommt es unter Benedikt XVI. aber auch einfach zu einem etwas entspannteren Verhältnis zwischen Dogma und Leben, sogar im prinzipienbewussten Deutschland?

Lehmann: Ich denke, dass der neue Papst bei den moralischen Fragen, sowohl in der Bioethik als auch in der Sexualethik, kein Terrain preisgeben wird. Aber ich kann mir vorstellen, dass er stärker auf die Grundhaltungen zurückgehen wird, aus denen die Normen folgen. Dazu gehört dann aber auch, dass man in diesen Grundfragen offensiver werden muss, dass man andere Lebensentwürfe, die man für falsch hält, kritisch angeht. In der Sexualethik, wo die Kirche nach einem klappernden Schema immer wieder abgefragt wird, wann sie diese oder jene Vorschrift endlich lockert, müssen wir auch einmal mehr Gegenfragen stellen: Sind das wirklich alles segensreiche Liberalisierungen gewesen, was sich da zwischen Mann und Frau verändert hat, oder ist manches auch zum Schaden des Menschen ausgegangen? Wie viel Gewalt und Rücksichtslosigkeit ist in die intimsten Beziehungen und Verhältnisse eingedrungen? In allen diesen ethischen Fragen haben unsere Positionen eigentlich eine viel größere Tiefe, als uns bisher zu vermitteln gelungen ist. Und uns selbst würde die Konzentration auf die Grundhaltungen auch davor bewahren, uns zu sehr in Einzelheiten zu verhaken. So wie ich Benedikt XVI., Joseph Ratzinger, kenne, glaube ich, dass er einen solchen Weg einschlagen könnte. Ohne etwas preiszugeben von dem, was er vorher in zweieinhalb Jahrzehnten mitgeschaffen hat, kann er jetzt als Papst in einer größeren Weite sprechen; er ist nicht gezwungen, gleich da und dort etwas zu disziplinieren.

ZEIT: So richtig begeistert wirkten Sie in den ersten Bildern und Äußerungen nach der Wahl BenediktsXVI. nicht.

Lehmann: Ach, da muss man doch erst einmal eine gewisse Anspannung hinter sich lassen. Ich musste mich ja innerhalb kürzester Zeit auf eine Pressekonferenz vorbereiten. Zudem bin ich auch in Zeiten der Freude ein nüchterner Mensch. Es gab ja auch noch andere Fragen: Gleich nach der Wahl, bei der so genannten Huldigung der Kardinäle, habe ich mich gefragt: »Wie spreche ich den Papst jetzt an? Ich will nicht das seit fast vierzig Jahren bestehende Du einfach eliminieren, ich will aber auch nicht banal werden.« Ich habe dann angefangen: »Heiliger Vater, lieber Joseph«, und da hat er mich sofort unterbrochen und gesagt: »Lass die ›Heiligkeit‹ weg.« Er hat es uns leicht gemacht. In diesem Sinne war ich doch sehr erfreut.

ZEIT: Zur Renaissance des Religiösen gehört auch eine Art neuer Strenge bei den Protestanten. Besonders der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, der Berliner Bischof Wolfgang Huber, will den Protestantismus wieder entschieden und unverwechselbar haben. Beobachten Sie das eher mit Sympathie oder mit Sorge?

Lehmann: Was das Verhältnis zu uns Katholiken angeht, sehe ich dies mit einer gewissen Zwiespältigkeit. Bei der Begegnung der anderen Christen mit dem Papst in Köln hat Bischof Huber von einer »Ökumene der Profile« gesprochen. Ich begrüße dies im Grunde, das Gesicht des Gegenübers kann gar nicht deutlich genug sein. Ich habe schon seit vielen Jahren gerade in der Ökumene Entschiedenheit gefordert, wenn es um die Wahrheit des Glaubens geht, und einen edlen Wettstreit ohne falschen Konkurrenzdruck, wenn es um das Zeugnis des Christlichen geht. Aber manche werden davon auch in Versuchung geführt, in Positionen zurückzufallen, die man schon für überwunden hielt.

ZEIT: Sie meinen, das ist Wasser auf die Mühlen der Ökumenegegner in Ihren eigenen, katholischen Reihen?

Lehmann: Beileibe nicht nur für die Katholiken. Eine zunächst legitime Suche nach der eigenen Identität kann schnell umkippen, wenn man zu ihrer Sicherung distanzierende oder abwertende Abgrenzungen vornimmt. Profilierung im guten Sinn kann man nur auf einem sehr schmalen Grat erreichen. Denn der ohnehin schmale Pfad führt unweigerlich an den Abgründen der Unverbindlichkeit und der Profilsucht vorbei. Bei Bischof Wolfgang Huber habe ich da keine Sorge, aber es gibt auf allen Seiten Epigonen, die nicht mehr differenzieren können und vielleicht auch nicht wollen. Klarheit muss unmissverständlich von Fanatismus und Fundamentalismus unterschieden werden.

ZEIT: Die Evangelische Kirche in Deutschland hat gerade erklärt, dass sie aus der Weiterentwicklung der »Einheitsübersetzung« der Bibel aussteigen wird. Man fühlt sich bei den Prinzipien, nach denen diese Übersetzung fortgesetzt wurde, von Rom bevormundet.

Lehmann: Dies ist ein langer Prozess. Ich habe ja auch ausführlich dazu Stellung genommen. Deshalb in der notwendigen Kürze: Ich bin überzeugt, dass wir ohne kurzsichtigen Pragmatismus und ohne Zudecken wirklicher Probleme in durchaus begründetem Vertrauen zueinander – auch zu den beteiligten Exegeten! –, das wir ja auch vielfach praktizieren, das gemeinsame Werk hätten beginnen können. Niemand kann ja begreifen, warum wir nach einem Vierteljahrhundert des gemeinsamen Gebrauchs der »Einheitsübersetzung« so hinter diese wirkliche Errungenschaft zurückfallen. Dabei habe ich durchaus Respekt vor der Luther-Übersetzung. Aber hier kamen eben in der Tat viele Enttäuschungen und Ängste, Missverständnisse und leider auch alte Vorurteile dazwischen. Umso mehr müssen wir dies sehr ernsthaft und nüchtern neu durchdenken. Ich bin zuversichtlich, denn zur wahren ökumenischen Bewegung gibt es keine Alternative. Freilich: »Unterscheidung der Geister« ist immer notwendig.

ZEIT: Sehen Sie auch eine Fundamentalismusgefahr, wenn Christen jetzt wieder gegen Darwins Evolutionslehre zu Felde ziehen? Das gibt es nicht nur in den Vereinigten Staaten; der Wiener Erzbischof, Kardinal Schönborn, hat sich neulich ebenfalls in dieser Richtung geäußert.

Lehmann: Dies ist eine unglückliche Debatte. Eigentlich war diese Art, Schöpfungsglauben und Darwinismus gegeneinander zu stellen, passé. Man hat sich aber auch lange Zeit nicht mehr ernsthaft um die damit verbundene Herausforderung gekümmert. Dafür hat sich, was nicht viel besser ist, eine Art Gleichgültigkeit zwischen der Theologie und den anderen Wissenschaften entwickelt: Man tut sich nichts, man hat sich aber auch nichts Rechtes zu sagen. Es gibt Konfliktherde, die meist nur so vor sich hin schwelen, aber wenn die Lunte daran gelegt wird, gehen sie doch hoch. Ich denke zum Beispiel auch an die Hirnforschung, wo man dann auf einmal darüber erschrickt, was für platte Ideen von der Willensfreiheit sonst ganz hoch gescheite Naturwissenschaftler haben können.

ZEIT: Einen Tag bevor die Herbstvollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz beginnt, findet die Bundestagswahl statt. Was Sie wählen, werden Sie uns wohl nicht verraten?

Lehmann: Der evangelische Bischof Hermann Kunst pflegte zu sagen: Das verrate ich nicht einmal meiner Frau.

ZEIT: Da besteht bei Ihnen nun keine Gefahr. Aber ob Sie sich schon entschieden haben, könnten Sie doch sagen.

Lehmann: Ich habe mich entschieden.

ZEIT: Kürzlich oder schon seit langem? Sind Sie Stamm- oder Wechselwähler?

Lehmann: Bei mir gibt es da eine gewisse Kontinuität, aber ich betrachte immer genauer die Leute, die sich zur Wahl stellen.


Das Gespräch führten Jan Ross und Bernd Ulrich

Backward Forward Post Reply List
http://theology.co.kr