DW AltaVista Translation


2005/10/24 (22:55) from 129.206.196.182' of 129.206.196.182' Article Number : 262
Delete Modify FAZ Access : 2388 , Lines : 115
Südkorea - Frauen im Gebärstreik




Südkorea
Frauen im Gebärstreik
Von Anne Schneppen, Seoul


22. Oktober 2005 Familie Hong ist eine südkoreanische Bilderbuchfamilie. In dem adretten Ziegelhaus nahe der Residenz des Staatspräsidenten leben drei Generationen unter einem Dach. Der 87 Jahre alte Großvater Hong Duk-woo und seine Frau, Sohn und Schwiegertochter, zwei Enkelsöhne und eine Enkeltochter.


Im Wohnzimmer weisen gerahmte Urkunden auf die vorbildlichen Leistungen der Hausfrau, die ihre bettlägerige Großmutter jahrelang aufopfernd pflegte. Im Hause Hong wird die Tradition nicht nur an Chuseok hochgehalten, wenn koreanische Familien zum Erntedankfest nach Hause strömen.

„Die Frauen wollen keine Kinder mehr”

Der beste Platz am Tisch ist für den Großvater reserviert, der als Reisbauer das Fundament für das Haus seiner Nachkommen legte.

Während seine Schwiegertochter ihm beflissen den Tee reicht und die Enkel respektvoll lauschen, erzählt er aus alten Zeiten, als die Familie noch am meisten galt, wenn sie viele Kinder, vor allem Söhne, hervorbrachte.

Hong Duk-woo hatte acht Geschwister, bekam sieben Kinder, sein Sohn Hong Song-soo nur mehr drei. Doch jetzt, klagt der Greis, ist die Moral im Niedergang: „Die Frauen wollen keine Kinder mehr.”

Kinderlose Gesellschaft

Die Bilderbuch-Großfamilie Hong ist im modernen Seoul eine beinahe exotisch anmutende Minderheit. Jahrelang hatte die Regierung die Kleinfamilie als Zukunftsmodell gepriesen, jetzt ist die kinderlose Gesellschaft eines der größten Probleme.

Auch andere Länder Asiens haben im Gefolge von Wirtschaftswachstum und rasantem sozialen Wandel mit sinkenden Geburtenraten zu kämpfen, aber nirgends ist sie so abgestürzt wie in Südkorea.

Noch nie sind so wenig Kinder geboren worden wie im vergangenen Jahr, 1,16 Kinder bringt eine Frau, statistisch betrachtet, in ihrem Leben zur Welt, das ist weniger als in Japan, Taiwan und der Volksrepublik China. In Koreas größten Wirtschaftszentren, Seoul und Busan, liegt die Geburtenrate schon unter 1,0.

Frauen ziehen den Job dem Kinderkriegen vor

Vor vier Jahrzehnten, als Korea noch ein armer Agrarstaat war, hatten Familien in der Regel mindestens vier Kinder, damals war die größte Sorge der Regierung, daß Überbevölkerung den Aufschwung lähmen könnte. Die Kampagnen für die Zwei-Kind-Familie schossen über das Ziel hinaus.

Noch 1983, als schon eine gesunde Balance erreicht war, wurden die Krankenkassen angewiesen, für Entbindungen des dritten und jedes weiteren Kindes nicht mehr zu zahlen. Heute ist vielen schon ein Kind mehr als genug.

„Die Einstellung der Frauen hat sich völlig verändert. Früher war die Alternative: Heirat oder Studium? Heute wollen die Frauen ein Studium, einen guten Job und erst dann wird über ein Kind entschieden”, sagt Yoo Kyung-hee von der Frauenorganisation „Womenlink”.

Mit 30 wird das erste Kind geboren

Bis vor wenigen Jahren war es in der konfuzianisch und patriarchalisch geprägten Gesellschaft üblich, daß eine Frau mit Mitte Zwanzig ihr erstes Kind bekam - und die Arbeitsstelle kündigte. Doch inzwischen wird im Durchschnitt erst mit Ende Zwanzig geheiratet und mit 30 das erste Kind geboren.

Hatten die Mütter noch weit hinter dem Mann zurückzustehen, so sehen sich ihre erstklassig ausgebildeten, selbstbewußten und die Freiheit genießenden Töchter erstmals vor die Wahl gestellt.

Doch es mangelt an Kindertagesstätten, sagt Frau Yoo, und zu Hause sind die Frauen mit der Erziehung allein, während die Männer oft bis in die Nacht in der Firma arbeiten. Von Angestellten, gleich ob Mann oder Frau, wird uneingeschränkter Einsatz erwartet.

Der Vater zeugt, die Mutter erzieht

Eine Regierungsstudie hat jüngst herausgefunden, daß arbeitende Mütter drei Stunden und 40 Minuten am Tag mit dem Nachwuchs verbringen, ihre Männer gerade einmal 34 Minuten. Der Vater hat mich gezeugt, die Mutter erzogen, sagt ein koreanisches Sprichwort. „Kein Wunder”, sagt Frau Yoo, „daß viele Frauen in Gebärstreik treten.”

Kim Ja-young, eine junge Mutter aus dem Seouler Bezirk Songpa, arbeitet halbtags in der Verwaltung einer Universität. Ihr zweijähriger Sohn wird währenddessen von der Großmutter betreut.

Der kleine Gwon wird ohne Geschwister aufwachsen, seine Mutter will sich - mit 34 Jahren - sterilisieren lassen: „Ein zweites Kind kommt für uns nicht in Frage. Die Erziehungskosten sind hoch, und wir wissen nicht, ob es uns in Zukunft besser oder schlechter gehen wird.”

Enorme Bildungskosten

So sieht das nicht nur Frau Kim. In der neuen Apartmentanlage nahe dem Olympiazentrum, wo die Familie seit einem Jahr wohnt, ist der schöne Spielplatz meist verwaist. Die Kinder nehmen nachmittags teuren Privatunterricht.

Die enormen Kosten der - privaten - Bildung sind vermutlich der wichtigste Grund, warum sich koreanische Eltern heute mit nur einem Kind begnügen. Schuldirektor Lee Kyung-hee, der über die Ausbildung von 1050 Grundschülern wacht, schätzt, daß koreanische Eltern mehr als die Hälfte ihres Einkommens in ihr Kind investieren.

Davon profitieren nicht staatliche Einrichtungen wie die Seouler Midong-Grundschule, sondern die zahllosen privaten Paukinstitute, die so gut wie jeder Schüler bis in die Nacht besucht. „Die Eltern wollen ihre Kinder unterstützen und für den Wettbewerb stärken”, sagt Lee. „Und dafür sind sie bereit, alles zu opfern, auch wenn es bedeutet, daß sie sich selbst nichts mehr leisten können.”

Trend zum Einzelkind

Die koreanische Kindheit ist ein für Deutsche unvorstellbarer Kampf - um den besten Abschluß, den Zugang zur angesehensten Hochschule - auf Kosten des elterlichen Bankkontos. Das Renommee der staatlichen Schulbildung ist gering. In Seoul ist es nicht ungewöhnlich, wenn Familien der Mittelschicht ihre Kinder auf amerikanische Elite-Internate schicken.

Der Trend zum Einzelkind spiegelt sich in schrumpfenden Klassen, Zwergschulen mit weniger als zehn Kindern, vor allem auf dem Land. Daß die Midong-Grundschule in Seoul über Nachfrage nicht klagen kann, hat sie ihrer zentralen Lage und ihrem Ruf zu verdanken.

Dennoch zeigt sich auch dort ein beunruhigender Nebeneffekt der Familienplanung: Sie leidet unter männlicher Dominanz. In den Klassen sitzen deutlich mehr Jungen als Mädchen, im Schnitt ist das Verhältnis vier zu drei.

Geschlechts-Planung

Der Gynäkologe Kim Seung-jo, ein angesehener Professor der Pochon-CHA-Universität, distanziert sich von illegalen Praktiken mancher Kollegen: Nicht nur das Einzelkind läßt sich planen, auch das Geschlecht.

Die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche ist hoch, nicht nur weil viele dies als „Verhütungsmittel” mißverstehen. So verbreitet war die Praxis der Geschlechterselektion, daß die Regierung sich genötigt sah, gesetzlich einzugreifen:

Frauenärzte dürfen Schwangeren nicht mehr sagen, ob sie einen Jungen oder ein Mädchen erwarten. „Wer dagegen verstößt, muß mit dem Verlust seiner Approbation rechnen”, sagt Dr. Kim. Gleichwohl weiß jeder, daß es ein leichtes ist, das Verbot mit Geld zu umgehen.

Jungenüberschuß

Die Abtreibungen unerwünschter Mädchen kann man an den Geburtenstatistiken ablesen. „Im internationalen Vergleich hat Südkorea noch immer einen Jungenüberschuß”, erklärt Won Yu-bok vom Seouler Statistikamt.

Vor einem Jahrzehnt kamen auf 117 Jungen 100 Mädchen, im Jahr 2000 betrug das Verhältnis 110 zu 100, im vergangenen Jahr 108 zu 100. „Es ändert sich jetzt, vor allem weil die junge Generation anders denkt”, sagt Won.

Nach dem traditionellen Empfinden gilt eine Familie erst etwas, wenn ein Sohn geboren ist. Der Mann - als Vater, Sohn, Bruder und Ehemann - ist nach konfuzianischer Überlieferung die Säule der Familie, um die sich alle Beziehungen hierarchisch gruppieren. Die Tochter hingegen geht mit der Heirat zur Familie ihres Mannes über.

Söhne versorgen traditionell die Älteren

Die Familie wird von der männlichen Linie bestimmt, was man schon am Familienregister sieht, das die Namen der männlichen Vorfahren über Jahrhunderte verzeichnet. Die wichtigen Feste und Rituale, Totenfeiern und Erntedank, werden von Männern ausgeführt.

Wer ohne männlichen Nachfahren bleibt, verletzt das Ansehen der Familie und der Ahnen. Hinzu kommt, daß es traditionell die Pflicht des Sohnes ist, seine Eltern im Alter zu versorgen. Solange das Rentensystem nicht funktioniert, ist auch dies ein Motiv für die Bevorzugung von Jungen.

Heutzutage sind junge Paare freilich nicht mehr ganz so sehr an der Tradition orientiert, Mädchen erhalten eine ebenso gute Ausbildung wie Jungen. Dem Problem der Kinderverweigerung - parallel zu einer ebenso rasant steigenden Lebenserwartung - steht die Regierung allerdings hilflos gegenüber.

„Babybonus”

Viel zu spät hat man den Trend erkannt, den man an der Entwicklung in Japan oder Taiwan doch schon seit den neunziger Jahren hätte ablesen können. Wenig überzeugende Kampagnen fordern Paare zur Familiengründung auf.

Manche Kommunen in der Provinz, die neben der niedrigen Geburtenrate auch noch eine extreme Landflucht zu verkraften haben, reagierten schneller als die Regierung, führten als Lockmittel einen „Babybonus” ein, finanzielle Unterstützung für jedes Kind.

Der Staat zahlt inzwischen vom dritten Kind an Kindergeld, umgerechnet 180 Euro im Monat. Man denkt über Erziehungsurlaub für die Eltern und über Steuervergünstigungen für kinderreiche Familien nach. Das Frauen- und Familienministerium hat sein Budget um 35 Prozent erhöht.

„Ein neues Bild der Familie”

Yoo Kyung-hee von der Frauenorganisation Womenlink ist allerdings skeptisch, ob man mit neuen Gesetzen oder Geld eine Geburtenwelle auslösen kann: „Es braucht gesellschaftliche Veränderungen und ein neues Bild der Familie.”

Das hat die 21 Jahre alte Hong Da-young, Studentin der Germanistik und jüngster Sproß des Hong-Klans, bereits. Der Großvater fordert noch in alter Sitte männlichen Nachwuchs ein, um die Traditionen, vor allem zum Ahnenfest Chuseok, fortsetzen zu können.

„Das”, entgegnet sie selbstbewußt dem Familienoberhaupt, „könnte ich auch.”


Text: F.A.Z., 22.10.2005, Nr. 246 / Seite 9
Bildmaterial: picture-alliance/ dpa/dpaweb


Backward Forward Post Reply List
http://theology.co.kr