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2006/02/12 (09:48) from 129.206.197.205' of 129.206.197.205' Article Number : 310
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Wer deutet das Denken?
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DIE ZEIT
 

Wer deutet das Denken?

Gegen die Hybris der Hirnforscher, den Menschen neu erklären zu wollen, wehren sich nun auch die Psychologen. Ein Streitgespräch zwischen Wolfgang Prinz und Wolf Singer über Neurowissenschaften und den freien Willen

DIE ZEIT: Herr Prinz, Sie beklagen in einem Manifest die Verklärung der Hirnforschung. Warum?

Wolfgang Prinz: Die Öffentlichkeit scheint immer mehr zu glauben, dass die Hirnforschung dabei ist, das Menschenbild zu revolutionieren. Mit diesem Aplomb treten die Kollegen jedenfalls manchmal auf. Und da sagen die Psychologen: Nun mal langsam. Wir haben das Gefühl, dass die Hirnforscher implizit Dinge für sich in Anspruch nehmen, die in der Psychologie seit je verhandelt werden.

ZEIT: Zum Beispiel?

Prinz: Kürzlich hörte ich den Vortrag eines jungen Historikers, der über den Status historischen Wissens sprach. Dabei bezog er sich auf Wolf Singer und behauptete, wir verdankten der Neurowissenschaft die Erkenntnis, dass historische Tatsachen stets eine Art Konstruktion darstellen – das heißt, dass sie in der Erinnerung oft verändert, manipuliert oder überhaupt erst hergestellt werden. Diese Erkenntnis ist vollkommen richtig. Bloß: Das hat nicht die Hirnforschung herausgefunden, sondern das ist seit fast hundert Jahren psychologisches Lehrbuchwissen.

Wolf Singer: Na ja, die Hirnforschung geht da schon ein bisschen weiter als die Psychologie. Sie kann zeigen, dass beim Prozess des Erinnerns die Gedächtnisengramme, die neuronal gespeicherten Spuren der Erinnerung, labil werden. Und zwar so stark, als würde das, was jetzt gerade erinnert wird, zum ersten Mal erfahren. Auf diese Labilisierung erfolgt ein erneuter Konsolidierungsprozess im Gehirn. Dabei bette ich den gerade erinnerten Inhalt in das Jetzt-Gehirn ein und nicht in das Gehirn von früher – so wird jedes Erinnern zu einem Umschreiben der Geschichte. Diese Erkenntnis als solche ist nicht neu. Aber jetzt erst kennen wir den neurobiologischen Mechanismus, der das erklärt.

Prinz: Doch die Hirnforschung kommt dabei natürlich nicht ohne die Psychologie aus. Denn die Neurobiologie untersucht ja nicht Erinnerungsprozesse per se. Sie kann allenfalls Mechanismen liefern, die Erinnerungsprozesse realisieren und tragen. Ohne die Psychologie wüssten die Hirnforscher gar nicht, wonach sie suchen sollten.

Singer: Natürlich muss ich meine neurobiologischen Erkenntnisse in einen Verhaltenskontext einbetten. Ohne die von Psychologen geleisteten Vorarbeiten und die Beschreibungen kognitiver Leistungen könnten wir die zugrunde liegenden neuronalen Prozesse nicht erforschen. Wüssten wir nicht, welche Leistungen ein Laptop erbringt, uns würde selbst die vollständige Kenntnis aller Bauelemente und deren Verschaltung nicht verraten, wozu er gut ist.

ZEIT: Dennoch ist in der Öffentlichkeit meist nur von der Hirnforschung die Rede. Woran liegt das? Machen die Neurowissenschaftler die bessere PR?

Singer: Diese PR wird auch mit uns gemacht, indem zum Beispiel die Medien unsere Themen aufgreifen und große Debatten inszenieren. Darüber bin ich nicht immer froh. Andererseits ist es wünschenswert, dass eine breitere Öffentlichkeit mit den Ergebnissen naturwissenschaftlicher Forschung vertraut wird und sich mit diesen auseinander setzen muss. Leider gibt es bei solchen Debatten auch Trittbrettfahrer, die auf der Welle mitschwimmen und nicht immer zur Versachlichung der Diskussion beitragen.

ZEIT: Ein Thema, mit dem die Hirnforschung derzeit besonderes Aufsehen erregt, ist die Willensfreiheit. Sie, Herr Prinz, beschäftigen sich mit »Handlungssteuerung« – das klingt sehr nach freiem Willen.

Prinz: Nein, nein, mit der Debatte um die Willensfreiheit haben unsere Experimente zunächst gar nichts zu tun. Wir machen sehr elementare Untersuchungen, zum Beispiel darüber, wie wir auf Reize reagieren. Warum etwa bewegen sich Menschen, die ein Fußballspiel sehen, im Fernsehsessel stärker und ganz anders, wenn das eigene Team bedroht ist, als wenn sie einem Team zusehen, das sie nicht weiter interessiert? Mit solch merkwürdigen Phänomenen, die seit langem bekannt, aber noch nicht hinreichend verstanden sind, beschäftigen wir uns.

ZEIT: Die Willensfreiheit kommt bei Ihnen im Labor also nicht vor?

Prinz (lacht): Nein. Die Vorstellung, es gäbe im menschlichen Geist eine Instanz namens Wille, die völlig frei entscheidet und nicht vorherbestimmt ist – eine solche Idee ist psychologischem Denken fremd. Die Psychologie sucht nach Determinanten von Verhalten. Wir wollen wissen: Warum hat jemand dies oder jenes getan? Einfach zu sagen, »es war sein freier Wille«, hieße, die Wissenschaft aufzugeben. Insofern kommt das Thema »freier Wille« in unserem Labor nicht vor. Das Kuriose ist nur: Eigentlich kommt das Thema auch in den Experimenten der Hirnforscher nicht vor. Sowohl für mich als auch für Herrn Singer gilt wohl: Aussagen zur Willensfreiheit sind Sonntagsgedanken.

Singer: Ich halte sie schon für mehr als Sonntagsgedanken. Wenn wir Aussagen zur Willensfreiheit machen, wenden wir das konzeptuelle Werkzeug aus unseren Labors auf ursprünglich philosophische Fragestellungen an – und kommen dabei erstmals zu naturwissenschaftlich untermauerten Antworten.

ZEIT: Dieses Eindringen in traditionell geisteswissenschaftliches Terrain erklärt wohl auch die öffentliche Erregung. Dabei fällt auf, dass um die Willensfreiheit vor allem Neurobiologen und Philosophen diskutieren. Die Psychologie dagegen kommt in der Debatte kaum vor. Woran liegt das? Machen Sie zu wenig auf sich aufmerksam?

Prinz: Es mag sein, dass die Psychologie ihr Licht zu lange unter den Scheffel gestellt hat. Wir müssen mehr deutlich machen, was die Psychologie kann und schon weiß. Im Streit der Philosophen mit den Neurobiologen fehlt zum Beispiel oft die vermittelnde Sprachebene zwischen der Beschreibung von Gehirnkonzepten und mentalen, philosophischen Konzepten. Eine solche Sprachebene bietet die Psychologie. Das klar zu machen ist ja auch der Sinn unseres Manifestes, das als Standortbestimmung gegenüber der Hirnforschung gedacht ist.

Singer: Ich denke, niemand bestreitet den Wert der Psychologie. Schließlich ist sie diejenige Wissenschaft, die sich mit den Phänomenen befasst, die das Gehirn hervorbringt. Ihr Verhältnis zur Neurobiologie ist etwa so wie das des Verhaltensforschers zum Biomechaniker: Der eine beschreibt den Vogelflug in allen Details – Sturzflug, Flatterflug, Gleitflug –, und der andere sucht dann nach den darunterliegenden Mechanismen.

ZEIT: Doch so ganz harmonisch scheint das Verhältnis ja nicht zu sein. In Ihrem Manifest, Herr Prinz, sprechen Sie etwa von »charakteristischen Fehldeutungen an der Schnittstelle zwischen Psychologie und Hirnforschung«. Worauf bezieht sich das?

Prinz: Ihren Erfolg verdankt die Hirnforschung ja zu einem wesentlichen Teil den neuen bildgebenden Verfahren wie etwa der Kernspintomografie. Damit kann man etwa zeigen, dass es an ganz bestimmten Stellen im Frontalhirn funkt, wenn jemand über ein arithmetisches Problem nachdenkt. Man hat also ein »neuronales Korrelat« gefunden, wie es in der Sprache der Neurowissenschaft heißt. Aber damit hat man natürlich noch keinerlei Erklärung dafür, wie das arithmetische Denken zustande kommt und funktioniert. Das ist so ähnlich, also wolle man die Liebe allein mit Hormonen und Chemie erklären. Da finden sich zwar Korrelationen, aber das sind noch keine Kausalbeziehungen. Zu dieser Fehldeutung kommt es leider häufig.

Singer: Es mag sein, dass gerade im Bereich der bildgebenden Verfahren manche Forscher kein fundiertes Wissen in der Kognitionspsychologie haben und dann notwendig zu kurz greifen bei der Interpretation ihrer Ergebnisse. Natürlich sind bei der Interpretation solcher Ergebnisse Hirnforschung und Kognitionspsychologie aufeinander angewiesen! Wenn ich zum Beispiel die Frage klären will, was männliche und weibliche Gehirne unterscheidet, dann ist das zunächst eine Frage an den Psychologen. Er muss die Verhaltensvariablen definieren, die Frau und Mann unterscheiden. Und dann kann der Neurobiologe nachschauen, ob er dafür ein Korrelat findet.

ZEIT: Aber was sagen solche Korrelate tatsächlich aus?

Singer: Sie können unser Verständnis für die tieferen Zusammenhänge von psychischen Leistungen verändern. Wenn ich zum Beispiel im Scanner sehe, dass die Aufmerksamkeit bei der visuellen Wahrnehmung mit der Aktivierung des gleichen neuronalen Netzwerks einhergeht wie die Aufmerksamkeit, die ich zum Speichern von Telefonnummern brauche, dann lerne ich daraus etwas über die Organisation aufmerksamkeitssteuernder Mechanismen. Und wenn die Psychologie von klar unterschiedenen Subfunktionen redet, kann es passieren, dass die Hirnforschung feststellt: Diese mögen sich zwar in der phänomenologischen Beschreibung unterscheiden, nicht aber in ihrem neuronalen Mechanismus. Die bunten Bilder helfen uns also zu klären, ob unsere Taxonomie und unsere Kategoriengrenzen brauchbar sind oder nicht. Und wir lernen mehr über die Vernetzung der neuronalen Systeme.

ZEIT: Das klingt nun recht bescheiden. In der Öffentlichkeit treten Hirnforscher dagegen oft mit der Attitüde auf: Wir erklären jetzt die Welt!

Singer: Na ja, es gibt solche und solche. Manche Hirnforscher machen tatsächlich glauben, man müsse nur alle Moleküle und Wechselwirkungen zwischen den Nervenzellen identifizieren, um unser Denken und Verhalten simulieren zu können. Aber wir wissen, dass dieser Bottom-up-Ansatz allein grundsätzlich nicht in der Lage ist, die Funktionen des hoch komplexen Systems Gehirns zu erklären. Wir benötigen sorgfältige Untersuchungen auf allen Ebenen, von der psychologischen Ebene bis hinunter zur molekularen.

ZEIT: Dennoch gilt die Neurowissenschaft als neue Leitwissenschaft. Und die Vorsilbe Neuro- verleiht allen möglichen Disziplinen neuen Glanz. Es gibt Neuropädagogik, Neuromarketing, Neurotheologie…

Singer: Sicher ist da manches übertrieben. Aber nehmen wir das Beispiel Neuropädagogik. Ihr liegt die Erkenntnis zugrunde, dass Gehirne sich nur bis zu einem bestimmten Lebensalter entwickeln, dass es kritische Phasen und irreversible, erfahrungsabhängige Modifikationen gibt. Wenn man das einmal im Labor gesehen hat, wird man nachdenklich. Wenn man zudem in einem Land lebt, in dem offensichtlich zu wenig für die Ausbildung junger Menschen getan wird, ist die Versuchung groß zu sagen: Passt auf! Es stimmt: »Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.« Die Hirnforschung kann euch jetzt den Mechanismus zeigen, der dafür verantwortlich ist. Das heißt, wir geben den Pädagogen ein weiteres Argument an die Hand, warum zum Beispiel Frühförderung so wichtig ist. Auch hilft es bei der Strukturierung von Erziehungsprozessen, wenn man weiß, auf welchen Mechanismen Lernvorgänge beruhen.

Prinz: Aber das erzeugt bei Psychologen natürlich eine gewisse Verärgerung. Denn Psychologen haben diese Lernmechanismen seit Jahrzehnten detailliert untersucht. Dennoch erreichen unsere Erkenntnisse die Öffentlichkeit nicht so wie die der Hirnforscher.

ZEIT: Woran liegt das? Fehlen Ihnen die bunten Bilder?

Prinz: Da ist etwas dran. Die Hirnforscher können teure Apparate und Aufnahmen aus dem Kernspintomografen präsentieren. Psychologen reden eher über abstrakte Korrelationen zwischen Variablen. Da haben wir gegenüber der Hirnforschung schlechtere Karten. Andererseits profitiert von den bildgebenden Verfahren wohl niemand so stark wie die Psychologie. Wir können daraus ablesen, durch welche physiologischen Mechanismen bestimmte kognitive Leistungen erbracht werden – und das wirkt natürlich auf unsere Theorien zurück. Insofern kann sich über die Fortschritte der Neurowissenschaft niemand mehr freuen als wir.

ZEIT: Sie betonen beide, dass Hirnforschung und Psychologie eng zusammenarbeiten müssen. Wie steht es um die Kooperation in Deutschland? Findet die in ausreichendem Maße statt?

Prinz: Wir fusionieren gerade in Leipzig zwei kleinere Max-Planck-Institute zu einem neuen Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften. Dabei bringen die Psychologen ihr Wissen über die Mechanismen ein, die Verhalten und Erleben zugrunde liegen, die Neurobiologen ihr Wissen über die Mechanismen der Hirnprozesse. Eine solche Zusammenarbeit ist für beide Seiten fruchtbar und liegt weltweit im Trend.

Singer: Auch wir holen uns Kognitionspsychologen in unser Max-Planck-Institut, weil wir sonst in bestimmten Fragen nicht weiterkommen. An den Universitäten dagegen ist die Kooperation mitunter nicht ganz einfach. Manchmal werden an mich Fragen herangetragen, die ich eigentlich gern an die Psychologen weiterleiten würde – aber dann fallen mir keine ein.

Prinz: Auf der Ebene der Universitäten ist die Zusammenarbeit auch deshalb schwierig, weil der Zugang zu den bildgebenden Verfahren meist in der Hand der Mediziner liegt. Und die nutzen diese Geräte in erster Linie für die klinische Forschung. Ob man sie auch als Psychologe nutzen kann, hängt davon ab, ob es an der medizinischen Fakultät Kollegen gibt, die man für seine kognitionswissenschaftlichen Fragen erwärmen kann.

ZEIT: Das heißt, die Disziplinen konkurrieren um Ressourcen und Forschungsmittel. Befürchten die Psychologen, dass sie gegenüber der Neurowissenschaft benachteiligt werden?

Prinz: Das könnte langfristig passieren. In Deutschland erfahren wir zwar eine sehr positive Förderung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft. Aber schon auf europäischer Ebene dominiert die Programmforschung – und da sind die Neurowissenschaften gegenüber der reinen Psychologie sicher im Vorteil.

ZEIT: Herr Singer, walzen Sie die anderen platt? Singer(lacht): Wir wiederum haben den Eindruck, dass wir auf der EU-Ebene ebenfalls einen schweren Stand haben. Viel stärker gefördert werden zum Beispiel Molekularbiologie, Forschungen zur Genetik, Bio-Tech und so weiter. Neurobiologische Grundlagenforschung dagegen hat es schwer. Da müssen wir schon ein Anwendungsfensterchen finden – zum Beispiel in der Klinik oder im Bereich der Informationstechnologie.

Prinz: Aber das gilt für die Psychologie ebenso. Wir machen zum Beispiel zunehmend die Erfahrung, dass Geldgeber erwarten, dass wir auch neurowissenschaftliche Aspekte berücksichtigen – selbst in Bereichen, zu denen die Neurobiologie überhaupt nichts beitragen kann. Das ist vermutlich eine Folge des Aufsehens, das die Hirnforschung mit Debatten wie der über die Willensfreiheit erregt.

ZEIT: Herr Singer, ist dieses Aufsehen gerechtfertigt? Der Neuroforscher und Biopsychologe Onur Güntürkün sagte kürzlich: Zur Frage der Willensfreiheit könne die Neurowissenschaft »rein gar nichts beitragen«. Stimmen Sie dem zu?

Singer: Nein. Die Neurobiologie kann immerhin die Randbedingungen angeben, unter denen Entscheidungen im Gehirn stattfinden. Ich denke, das Missverständnis kommt daher, dass in der ganzen Debatte wenig klargelegt wird, was mit »Freiheit« eigentlich gemeint ist.

ZEIT: Haben wir nicht alle eine Vorstellung davon, was eine »freie« Entscheidung ist?

Singer: In der Alltagssprache ist der Freiheitsbegriff so schlecht definiert, dass man damit gar nichts anfangen kann. Die Willensfreiheit, die juristisch oder philosophisch gemeint ist, bezieht sich zum Beispiel ausschließlich auf Entscheidungsprozesse, die auf der Basis des Bewusstseins nach sprachlichen, rationalen Spielregeln verhandelt werden. Je weniger dieser Abwägungsprozess gestört ist – durch innere oder äußere Zwänge, also Triebstrukturen oder Androhungen –, umso »freier« hat jemand entschieden, umso mehr kann ihm das, was er getan hat, zugeschrieben werden, umso größer wäre im Fall von »Fehlentscheidungen« die subjektive Schuld.

ZEIT: Die Freiheit des Willens wäre demnach keine absolute Eigenschaft, sondern nur ein graduelles Phänomen?

Singer: Richtig. Und selbst die so genannten freien Entscheidungen sind am Ende von Hirnprozessen abhängig – und damit zu einem großen Teil vorherbestimmt. Denn welche Argumente ins Bewusstsein kommen, hängt ab von unbewussten Prozessen, von Vorerfahrungen, früheren Verdrängungen, von augenblicklichen Motivationen. Und wie jemand rational abwägt, ist seinerseits wieder neuronal determiniert. Es gibt Menschen, die können bis zu sieben verschiedene Variablen im Kurzzeitspeicher und damit im Bewusstsein halten, andere nur vier – das beeinflusst natürlich den bewussten Abwägungsprozess. Daher kommt die Neurobiologie am Ende zu der Aussage: Jemand hat so entschieden, weil er mit einem Gehirn ausgestattet ist, das in diesem Moment so entscheiden konnte und nicht anders.

Prinz: In diese Entscheidung spielen aber auch soziale Tatsachen hinein – zum Beispiel die Intuitionen über Moral und Gerechtigkeit oder über Subjektivität und Willensfreiheit, die wir in unserer kulturellen Sozialisation gelernt haben. Insofern sind nicht nur Neuronen ausschlaggebend.

Singer: Letztlich doch. Denn wenn ein soziales, ein moralisches Argument an mich herangetragen wird, muss es ebenfalls erst neuronal repräsentiert werden, um wirken zu können.

ZEIT: Aber was ist in dem Fall die treibende Kraft? Sind es die Neuronen – oder nicht vielmehr die sozialen Argumente, die quasi neuronal übersetzt werden?

Singer: Meine Entscheidung ist letztlich die Folge all der Faktoren, die die Vorgänge in meinem Gehirn in dem jeweiligen, der Entscheidung vorausgehenden Augenblick beeinflussen können. Dazu gehören Argumente von außen, meine Triebstruktur, meine Erfahrungen, zum Beispiel mein Hunger, die Außentemperatur – einfach alles. Ein soziales Argument zählt neuronal vielleicht nicht anders als die Erfahrung einer Watschen, die ich als Kind bekam.

Prinz: Es mag ontologisch schon so sein, dass geistige Prozesse nur auf der Grundlage von materiellen Prozessen entstehen. Daraus kann man aber nicht schlussfolgern, dass man diese Prozesse nur auf der Ebene von Physik und Chemie untersuchen und erklären kann – denn dann geht ihr Eigentümliches verloren. Das Eigentümliche dieser Prozesse sieht man erst auf der psychologischen Ebene.

Ich würde das Freiheitskonzept, mit dem die Juristen und Philosophen hantieren, als ein Konzept betrachten, das sagt: Menschen sind dann frei, wenn sie im Sinne Kants ihre rationalen Erwägungen selbst steuern. Wir sind frei in dem Sinne, dass wir – und andere – uns als frei verstehen. Und dieses (Selbst-)Verständnis macht etwas mit uns. Es verpflichtet uns darauf, uns nach bestimmten moralischen Prinzipien zu verhalten.

Singer: Ich könnte es auch umdrehen: Wir empfinden uns als frei, wenn uns das Kunststück gelingt, die Entscheidungen, die sich auf der bewussten Ebene vorbereiten, kongruent zu machen mit unseren moralischen Ansprüchen, unseren Triebstrukturen und mit den gleichzeitig unbewusst ablaufenden Entscheidungen. Dann hat man das Gefühl, man habe zwangsfrei und im Einklang mit sich entschieden.

Das kommt leider nicht immer vor. Man sagt: Ich habe diese Entscheidung getroffen, obwohl ich ein dummes Gefühl dabei hatte. In diesem Fall hat man sich gegen unbewusste Motive entschieden, und der Konflikt äußert sich in vegetativen Reaktionen, etwa einem Gefühl des Unwohlseins. Oder umgekehrt: Man entscheidet sich intuitiv und wider besseres Wissen für eine Sache. In beiden Fällen ist man nicht sehr glücklich. Glücklich sind wir und frei fühlen wir uns, wenn alle bewussten rationalen Argumente und das, was meine Seele dabei empfindet, zusammenkommen.

Prinz: Für mich ist die entscheidende Frage: Was bewirkt die Tatsache, dass wir in einer Kultur leben, in der wir uns als freie Individuen verstehen? Diese Tatsache ist selbst eine der vielen Determinanten, die auf uns einwirken. Ich meine: Die Vorstellung der Willensfreiheit ändert unser Verhalten, sie zwingt uns, unsere Handlungen zu reflektieren. Dadurch werden wir zu moralischen und rationalen Subjekten erzogen. Insofern kann man sagen: Menschen werden – jedenfalls zu einem gewissen Grad – zu dem, wofür andere und sie selbst sich halten. Natürlich werden auch diese Prozesse durch Gehirnmechanismen getragen, aber die funktionale Logik, die ihnen innewohnt, kann man nicht mit Mitteln der Hirnforschung beschreiben, sondern nur mit Mitteln der Psychologie.

Singer: Sicher wirken diese Vorstellungen. Das Konstrukt »Gott« wirkt ja auch – egal, ob er nun existiert oder nicht.

ZEIT: Halten Sie die Vorstellung der Willensfreiheit denn für wünschenswert?

Prinz: Ich halte sie jedenfalls für nützlich. Sie hilft uns, Regeln für das Zusammenleben aufzustellen, deren Einhaltung nicht allein durch Autorität gewährleistet wird. Solange man die Individuen dazu bringt, sich für frei und damit auch für verantwortlich zu halten, funktioniert diese Art der gesellschaftlichen Organisation.

Singer: Auch ich will unsere Kodizes nicht über Bord werfen – ganz im Gegenteil. Natürlich sind wir Menschen für das verantwortlich, was wir tun, und müssen dafür zur Rechenschaft gezogen werden können. Nur sollten wir zur Kenntnis nehmen, dass die Beweggründe unserer Handlungen nicht immer unserer bewussten Kontrolle unterliegen. Und wenn man das akzeptiert, hat das Konsequenzen für die Zuschreibung von Schuld, sofern sie sich am vorhin definierten Freiheitsbegriff orientiert. Ich glaube deshalb, dass wir den juristischen Begriff der Schuld revidieren sollten, da subjektive Schuld von außen kaum zu bestimmen ist.

Prinz: Ich glaube auch, dass das Verantwortungskonzept für die Fundierung von Moral und Recht ausreicht und dass wir Schuld nicht brauchen. Aber so einfach wird es mit einer Revision nicht sein. Der Schuldbegriff ist zentral für die christliche Ethik und deshalb seit Jahrhunderten tief in uns verwurzelt. Und davon ist auch unsere Vorstellung der Willensfreiheit geprägt. Mit anderen Worten: Als soziale Tatsache ist er enorm wirkungsmächtig. Um ihn loszuwerden, werden wir schon ein paar hundert Jahre brauchen.


Das Gespräch führte Ulrich Schnabel


(c) DIE ZEIT 14.07.2005 Nr.29

29/2005





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