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Relativitätstheorie mit Wurst und Käse
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DIE ZEIT
 

Relativitätstheorie mit Wurst und Käse

Einstein brauchte für seine revolutionären Ideen im »Wunderjahr 1905« weder Geld noch akademische Förderung – nur Stullen und gute Freunde

Von Ulrich Schnabel

Am 5. Februar 1902 erschien im Anzeiger für die Stadt Bern folgende Notiz: »Privatstunden in Mathematik u. Physik für Studierende und Schüler erteilt gründlichst Albert Einstein, Inhaber des eidgen. polyt. Fachlehrerdiploms, Gerechtigkeitsgasse 32, 1. Stock. Probestunden gratis.« Damit begann für den soeben nach Bern übergesiedelten Einstein wie für die gesamte Physik eine der fruchtbarsten Schaffensperioden. In den folgenden drei Jahren zündete der »Fachlehrer« ein strahlendes Ideenfeuerwerk. Neben seiner 48-Stunden-Woche im Berner Patentamt entwickelte er in der Freizeit jene unerhörten Theorien, mit denen er im Annus mirabilis das wissenschaftliche Weltbild umstürzte.

Im März 1905 gab er mit der Lichtquantenhypothese einen entscheidenden Anstoß zur Quantentheorie. Im April vollendete er seine Doktorarbeit über die statistische Bewegung von Teilchen – und lieferte damit einen indirekten Beweis für die Existenz der Atome. Im Juni veröffentlichte er seine spezielle Relativitätstheorie – und wenig später, als Nachtrag, die berühmte Formel E=mc2. Wie kam es zu dieser Explosion wissenschaftlicher Kreativität? Lässt sich aus der Historie vielleicht eine Regel für künftige Innovationsförderungs-Programme ableiten?

Wohl kaum: Einstein schaffte es ohne staatliche Gelder oder Kompetenzzentren. Er entwickelte seine bahnbrechenden Ideen vorwiegend im Gespräch mit Freunden, die in bestem Sinne Wissenschaftsamateure waren. Mit ihren naiven Ansichten förderten sie jene Offenheit des Denkens, mit der Einstein die Grundfesten der Physik erschütterte.

Auf die Annonce im Berner Anzeiger melden sich seine ersten Sparringspartner. Mit den Studenten Maurice Solovine und Conrad Habicht gründet Privatlehrer Einstein einen Diskussionszirkel namens »Akademie Olympia«, in dem bei Schlackwurst und Schweizer Käse über Wissenschaft und Philosophie debattiert wird. Die drei lesen Ernst Mach, Henri Poincaré und David Hume, der den Kausalitätsbegriff hinterfragte. Die »übermütigen Abende« in der Akademie erzeugen mit ihrem heiligen Unernst das rechte Innovationsklima für die Revolution der Physik.

Als Habicht 1904 Bern verlässt, findet Einstein in Michele Besso Ersatz. Der Maschinenbauingenieur wird zum idealen Resonanzraum für Ideen, die Einstein umtreiben: die Elektrodynamik bewegter Körper. Was nach einem abgelegenen Spezialthema klingt, weist auf einen grundlegenden Widerspruch zwischen der klassischen Mechanik Newtons und der von James Clerk Maxwell formulierten Elektrodynamik hin. Laut Newton sollen die Naturgesetze in allen (gleichförmig zueinander) bewegten Systemen identisch sein. In der Elektrodynamik scheint jedoch ein Bezugssystem – das ruhende – besonders ausgezeichnet zu sein.

Was sieht ein Beobachter, der auf einer Lichtwelle reitet?

Auf ausgedehnten Spaziergängen in den Berner Arkaden erläutert Einstein dem interessierten Besso immer wieder das Problem. Nimmt ein Beobachter auf der Erde einen Lichtstrahl anders wahr als jemand, der auf der Lichtwelle ins All reitet? Der lichtschnelle Beobachter müsste die Lichtwelle »als ruhendes, räumlich oszillierendes elektromagnetisches Feld wahrnehmen«, sagt Einstein, »so etwas kann es aber nicht geben, weder aufgrund der Erfahrung noch gemäß den Maxwellschen Gleichungen«. Besso hakt nach. Woher weiß der eine Beobachter, was der andere sieht? Wie messen sie Zeit? Was ist für sie »gleichzeitig«? Solche Anstöße sind für Einstein Gold wert. Bei einer Unterhaltung im Mai 1905 geht plötzlich ein Leuchten über sein Gesicht. Einstein verabschiedet sich eilig – und begrüßt Besso am nächsten Tag mit den Worten: »Danke Dir, ich habe mein Problem vollständig gelöst!«

Fünf Wochen später reicht er seine Schrift Zur Elektrodynamik bewegter Körper bei den Annalen der Physik ein und begründet damit die Spezielle Relativitätstheorie. Darin findet sich keine einzige Literaturangabe, lediglich eine Danksagung an Besso. Der Aufsatz ähnele eher einer Patentschrift als einem Fachartikel, bemerkt der Historiker Peter Galison. In seinem Buch Einsteins Uhren, Poincarés Karten belegt der Harvard-Professor, dass Einstein sich von technischen Fragen inspirieren ließ – etwa vom Problem der Synchronisation entfernter Uhren auf Bahnhöfen.

Statt wie Newton von einer allgemeinen, »absoluten Zeit« auszugehen, sagt Einstein: Zeit ist das, was man an der Uhr abliest. Und um zwei Uhren miteinander zu vergleichen (etwa auf einem Lichtstrahl und auf der Erde), muss ein Beobachter von der einen Uhr zur anderen blicken können – was wiederum Zeit braucht. Schneller gucken als mit Lichtgeschwindigkeit geht nicht.

Solche Überlegungen führen Einstein zu dem tollkühnen Schluss: Zeit und Raum sind nicht absolut, sondern hängen von der Bewegung eines Systems ab. Konstant sei dagegen die Lichtgeschwindigkeit, die in allen Systemen denselben Wert annimmt. Ein unerhörter Gedankenschritt. Zudem hat die Theorie paradox anmutende Konsequenzen – etwa dass die Zeit in einem bewegten System langsamer vergeht als im ruhenden oder dass ein davonfliegender Raumfahrer langsamer altert als ein auf der Erde zurückgebliebener. Doch Einstein vertraut seiner theoretischen Intuition mehr als dem »gesunden Menschenverstand«.

Allerdings war die Revolution gut vorbereitet. Das Gedankenexperiment mit dem Lichtstrahl-Reiter findet sich ähnlich in den Naturwissenschaftlichen Volksbüchern von Aaron Bernstein, die Einstein als Jugendlicher verschlungen hat. Und selbst die Grundzüge der Relativitätstheorie hat ein anderer vorgedacht, nämlich der holländische Physiker Hendrik Antoon Lorentz. Einstein brauchte diese Theorie »nur« vom Kopf auf die Füße zu stellen und die Lorentzschen Formeln und Ansätze radikal neu zu interpretieren.

Ähnliches gilt für die anderen Arbeiten, mit denen Einstein die Fachwelt 1905 in Erstaunen setzte. Während Poincaré und Lorentz für die Relativitätstheorie Pate standen, bezog sich Einstein in seinen Arbeiten zur Brownschen Bewegung auf Ludwig Boltzmann und in seiner Lichtquantentheorie auf Max Planck. Gemeinsam ist den Arbeiten im Wunderjahr, dass sie die Grenzen der damaligen Physikdisziplinen überschritten. Und nur ein Freigeist wie Einstein, der sich nicht im akademischen Betrieb behaupten musste und sich keiner Einzeldisziplin verpflichtet fühlte, hatte die Courage, diese scheinbar weit entfernten Gebiete der Physik zusammenzuführen.

Inspiration beim Kaffeekranz: Was machen Zuckermoleküle im Tee?

So wie die Relativitätstheorie eine Brücke zwischen Mechanik und Elektrodynamik baute, fand Einstein mit seiner Lichtquantenhypothese das fehlende Puzzleteil, um die Wärmelehre mit der Elektrodynamik zu verbinden. Seine Theorie der Brownschen Molekularbewegung markierte die Schnittstelle von Wärmelehre und Mechanik. Den Anstoß dazu soll übrigens ein Kaffeekränzchen mit Michele Besso gegeben haben: Einstein überlegte, wie die Zähflüssigkeit des Tees von der Größe der Zuckermoleküle abhängt.

Diese Arbeiten brachten ihm früh die Wertschätzung von Physikern wie Planck und Poincaré ein. Die Mehrheit der Fachwelt brauchte freilich länger, um sich mit den radikalen Theorien aus dem Berner Ein-Mann-Think-Tank anzufreunden. Einstein ließ sich davon nicht beirren. Nachdem er seine Dissertation an der Universität Zürich eingereicht hatte, bekam er sie mit der Begründung zurück, sie sei zu kurz. Frech ergänzte er die Arbeit um einen einzigen Satz. Vier Tage später wurde sie angenommen.

Mitarbeit: Michael Tekath

Warum Einstein einen Kühlschrank erfunden hat, lesen Sie in der aktuellen Ausgabe von »ZeitWissen«, dem neuen Wissensmagazin der ZEIT


(c) DIE ZEIT 16.12.2004 Nr.52

52/2004

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