DW AltaVista Translation


2007/07/21 (20:10) from 84.173.180.208' of 84.173.180.208' Article Number : 331
Delete Modify Die Zeit Access : 4771 , Lines : 141
Zwischen Peter und Habermas



DIE ZEIT
 
Die Kritische Theorie ist tot

Peter Sloterdijk schreibt an Assheuer und Habermas

Sloterdijk

Südfrankreich, Anfang September 1999

Sehr geehrter Herr Assheuer,

als ich Ihren sehr interessanten und fantasievollen, wenn auch etwas zu sensationellen Aufsatz über das von Ihnen so genannte "Zarathustra-Projekt" in der ZEIT vom 2. September las, hatte ich spontan das Bedürfnis, Ihnen, verständlichen Vorbehalten zum Trotz, zu gratulieren. Sie weisen in Ihrem Artikel endlich wieder vor großem Publikum auf aktuelle Probleme hin, die viele zeitgenössische Philosophen, Naturwissenschaftler und Soziologen seit Jahrzehnten beschäftigen. Sie tun der philosophischen Debatte den Gefallen, zu zeigen, dass akademische Öde nicht ihre einzige Existenzweise sein muss.
Besonders hat mir Ihr Hinweis gefallen, dass es nach meinem Vortrag in Elmau "in der Philosophenszene rumort" habe. Da ich die einschlägigen Rumor-Philosophen persönlich kenne, kann ich die Tragweite dieser Bemerkung überblicken. Noch besser gefiel mir Ihre Formulierung, dass das Rumoren "allerdings nur hinter vorgehaltener Hand" stattfinde. Dieser Ausdruck ist amüsant, weil er auf eine Sachlage verweist, die anatomisch nicht leicht nachzuvollziehen ist. Wie stellt man es an, hinter vorgehaltener Hand über jemanden zu reden, hinter dessen Rücken man redet?

Es wäre mir aber lieb, wenn Sie mir den Text des von Ihnen rezensierten Vortrags zur Überprüfung überlassen könnten. Mein Wunsch nach einer Gegenlektüre ist leicht erklärt: Ich habe bei mir zu Hause eine Version des von Ihnen fabelhaft dämonisierten Textes liegen, die um vieles blasser ist als Ihr triumphales Referat. Normalerweise suche ich mir die Leute, die mich besser verstehen als ich mich selbst, nach Möglichkeit selber aus, aber mir scheint, dass ich in Ihrem Fall eine Ausnahme machen muss. Gern würde ich Ihr Exemplar mit dem meinen vergleichen, um zu sehen, ob wir dieselben Vorlagen benutzen. In meinem Text heißt es zum Beispiel an einer Stelle, dass Nietzsches züchterische Visionen hysterisch und unangemessen waren und dass sein Konzept des Übermenschen für uns keine Bedeutung mehr haben kann, aber dass er nichtsdestoweniger - wie Plato - ein Zeuge bleibt für das Aufdämmern gewisser "pastoraler" Aspekte in Fragen nach der Fortpflanzung, Erziehung, Medikalisierung und Selbstoptimierung menschlicher Wesen. Ein anderes Beispiel: In meinem Exemplar steht, dass angesichts der aktuellen Durchbrüche in der Biotechnologie ein moralischer Codex formuliert werden muss (ich sage, etwas umfassender, für die "Anthropotechniken") - und ich füge, zu Ihrem Verständnis, hinzu, dass in einem solchen Codex, unter anderem, die Grenze zu ziehen ist zwischen legitimen genmedizinischen Optimierungen für die Einzelnen und illegitimen Biopolitiken für Gruppen. Sie haben offenbar eine surrealistische Version vorliegen, weil Sie lesen, es werde für eine umfassende elitistische Neuzüchtung der Gattung plädiert. In meinen Ohren klingt das nach Science-Fiction, mit biologischer Gotik und soziologischer Schauerromantik kombiniert. Ich würde gern wissen, wer den Ihnen vorliegenden Text so sensationell umgeschrieben hat, dass er jetzt ungefähr das Gegenteil von dem besagt, was in ihm steht? Oder hat vielleicht die vorgehaltene Hand Ihnen Winke gegeben, wie er gegen den Wortlaut zu lesen sei?

Kommen wir zum Modus Ihres Angriffs. Im Prinzip könnte Ihre alarmistische Attacke eine legitime demokratische Funktion ausdrücken. Sollte ich den Unsinn gesagt und gemeint haben, den Sie in meinen Text hineinlegen, so hatten Sie Recht, davor zu warnen. Jede Gesellschaft braucht semantische und physische Alarmsysteme, um sich gegen Angriffe auf ihren Bestand, moralisch oder politisch, von innen oder von außen, zu wehren. Denken Sie, um klassisch zu argumentieren, an die kapitolinischen Gänse, die einst das alte Rom mit ihrem rechtzeitigen Schnattern zu nächtlicher Stunde vor den Galliern gerettet haben. Damit fängt schon alteuropäisch der Alarmismus an. Die Hüter der res publica haben den Gänsen diesen Dienst nicht vergessen. Das kapitolinische Geflügel, das funktional in unserer Presse und unserer Ideologiekritik weiterlebt, hat von da an auch das Recht, Fehlalarme auszulösen, ohne geschlachtet zu werden. Das ist schon gut so. Lieber ein paar Mal zu oft schnattern als einmal zu wenig - als Demokrat bin ich in diesem Punkt auf Ihrer Seite. Wenn ich Unverantwortliches gesagt haben sollte, akzeptiere ich Alarm jeder Art, solange er zum zivilisierten Gespräch führt.

In Bezug auf Ihr Vorgehen, Herr Assheuer, ist aber ein Bedenken anzumelden. Muss man nicht gelegentlich auch vor dem Warner warnen? In meinen Augen sind Sie auf dem besten Weg, selbst zu einer Problemgans zu werden, zum einen, weil Sie so übertrieben auftragen, zum anderen, weil Sie im Auftrag Dritter den Alarm auslösen. Von beidem ist zu reden.

Zunächst: Allen Lesern Ihres Artikels wird auffallen, wie sehr Sie den Alarm ästhetisiert haben. Das weckt sofort einen gewissen Verdacht: Haben Sie vielleicht den l'alarme-pour-l'alarme für sich entdeckt? Sie rauschen daher wie eine gefiederte Entrüstungsdiva, die ständig nach der Publikumsreaktion schaut.

Die Dekadenz des Alarms ist also bei Ihnen nicht zu übersehen, er ist zur selbstbezüglichen Form geworden und luxuriert. Worin besteht für die Öffentlichkeit der Nutzen einer Sologans, die ihre Wahnsinnsarie abschnattert, während weit und breit kein Gallier zu sehen ist? Oder wollen Sie sagen: Was ein Gallier ist, das bestimmt die Gans, die vor ihm warnt?
Offenbar ist dies Ihr Ansatz. Andernfalls, scheint mir, hätte es genügt, darauf hinzuweisen, dass der Philosoph X einen Vortrag über eines der brisantesten Themen der Gegenwart gehalten hat, eine ziemlich esoterische, literarisch anspruchsvolle Rede, ein philosophisches Nachtstück, das der Autor selbst nicht ohne Sorge vor den Abgründen seiner Problemstellung in Elmau vor einer Gruppe eminenter Philosophen und Theologen vortrug (es müssen, neben Ihnen, lauter Schlafmützen gewesen sein).

Ein Wort zu der eben gebrauchten Formulierung "Dekadenz" des Alarms - ich hätte auch "Ausdifferenzierung" sagen können oder einfacher "Geschäft". Ihr Artikel ist ein gültiges Beispiel dafür, wie sich in der zeitgenössischen totalen Öffentlichkeit eine Entwicklung vom Alarmismus zum Skandalismus vollzieht (vgl. Peter Sloterdijk, Selbstversuch, Hanser Verlag, München 1996, S. 110-130). Nicht wenige Journalisten, darunter auch Sie, haben die Zeichen der Zeit erfasst: den Tod der Kritik und ihre Transformation in Erregungsproduktionen auf dem eng gewordenen Markt der Aufmerksamkeitsquoten. Sie bieten seither ihre Dienste immer unverhohlener an: entweder als Publicity-Macher oder als Skandalisten, was strukturell dasselbe ist. Also darf man fragen: Wem dienen Sie mit Ihrem Auftritt - sich selbst?, einem anderen?, der Diskursdemokratie?, der ganzen Menschheit?

Damit kommen wir zu dem anderen Punkt. Folgen wir einfach Ihrem Hinweis: Wenden wir uns an den Besitzer der vorgehaltenen Hand, die Ihnen zugesteckt hat, zu wessen Nutzen Sie sich und andere munter machen sollen.

Mit freundlichen Grüßen Ihr P. Sl.

Der offene Brief, Zweiter Teil

Sehr geehrter Herr Habermas,

Gerüchte reisen bekanntlich schnell. Irgendjemand hat einmal gesagt, sie reisen so schnell wie der böse Wille. Inzwischen ist auch mir, als letztem Glied in der geflüsterten Kette, mit einer Verzögerung von nur wenigen Wochen, sogar an meinem Ferienort im Süden zu Ohren gekommen, was Sie über mich und meinen Elmauer Vortrag zum Humanismusbrief von Martin Heidegger verbreitet haben sollen, mit Worten, die eher aus dem polemischen Reservoir Ihres politischen Wortschatzes stammen, wobei der Ausdruck "jungkonservativ" eine große Rolle spielt.

Mit Rücksicht darauf, dass es zwischen uns einmal hellere Tage gegeben hat, sogar die unausgeführte Vorskizze zu einer Freundschaft, und weil ich meine Erinnerungen an die Hochachtung, die ich für Sie als Verfasser einiger für mich und meine Generation lehrreicher Bücher empfand, nicht im Affekt verwerfen will, schreibe ich Ihnen hiermit, um die Voraussetzungen für eine Rückkehr zu dialogischen, nicht diffamierenden Verständigungsformen von meiner Seite her zu erfüllen. Ich tue den ersten Schritt, obwohl es Ihnen der Situation nach oblegen hätte, ihn zu machen. Ich honoriere den Bonus des Älteren, den Sie in Bezug auf mich genießen. Ich betrachte bis auf weiteres Ihre Auslassungen als bloße Irrtümer, die Sie revidieren können, und Ihre Urteile als Ausdrücke eines Zustands, von dem eine Rückkehr in gemäßigte Formen noch möglich ist.

Bitte beachten Sie die Formulierung "bis auf weiteres". Sie drückt aus, dass ich der Obergrenze meiner Toleranz nahe bin. Sie haben, Herr Habermas, mit zahlreichen Leuten über mich geredet, niemals mit mir. In unserem argumentierenden Gewerbe ist das bedenklich; bei einem Theoretiker des demokratischen Dialogs ist es unverständlich. Mit Ihren Reden haben Sie, um nach dem zu urteilen, was ich im indirekten Rücklauf höre, für Aufregung gesorgt. Über Wochen hin, scheint es, haben Sie im Groben gepoltert und im Feinen agitiert. Sie haben zwischen Hamburg und Jerusalem umhertelefoniert, um andere zu Ihrem Irrtum zu bekehren. Sie haben Kollegen, die meine Elmauer Rede bedenkenswert fanden, sogar massiv unter Druck gesetzt. Mehr noch, Sie haben Raubkopien des Textes angefertigt (der Ihnen privatim überlassen worden war) und diese, unter Verletzung aller guten kollegialen, akademischen und publizistischen Sitten, an Journalisten, die Ihre Schüler waren und sind, geschickt, begleitet mit einer expliziten Anleitung zum Falschlesen und mit einer Aufforderung zum Handeln. Sie haben Teilnehmer der Elmauer Tagung mit latent erpresserischen Vorwürfen überschüttet, dass sie in situ nicht so exzentrisch wie Sie auf meine Rede reagiert hatten. Sie haben bei einem Mitarbeiter der ZEIT sowie bei einem Autor des Spiegels Alarmartikel in Auftrag gegeben, bei denen Ihr Name nicht fallen sollte. Zuerst blies Ihr Schüler Assheuer ins Horn, dann hat auch der Mohr seine Schuldigkeit getan.

"Souverän ist, wer sich so vertreten lassen kann, als ob er in seinem Vertreter selbst anwesend wäre." In Anspielung auf den von uns beiden heftig kritisierten Carl Schmitt habe ich in meinem letzten Buch (Sphären II, Globen, S. 667) einen Satz formuliert, der, wenn er zutrifft, erkennen lässt, dass Sie sich noch immer um die Rolle des Souveräns der deutschen Diskurs-Produktion bemühen, auch nach Ihrer Emeritierung. Es gibt, soweit ich sehe, in der Theoriegeschichte keinen Präzedenzfall, dass sich ein Denker in einer so prekären Sache so diskret und effizient hat vertreten lassen wie Sie.
Ich gebe zu diesen Vorgängen zunächst einen Kommentar im Jargon unserer einstmals gemeinsamen philosophischen Schule. Man würde damals angesichts einer asymmetrischen Gesprächslage dieses Typs bemerkt haben: Der Kritiker verdinglicht seinen Gegner; er behandelt ihn wie einen Mechanismus, nicht wie eine Person. Er reklamiert für sich die volle Subjektivität (aus direktem Zugang zur Wahrheit) und spricht dem anderen eben diesen Zugang ab. Dies ist im semantischen Bürgerkrieg manchmal nötig. Glauben Sie mir, Herr Habermas, ich bin mit dergleichen Sprachspielen so gut vertraut wie Sie selbst. Sie gehören zum inhumanen Erbe des ideologiekritischen Denkstils, der bei Ihnen gewiss nicht schlimmer ausgeprägt ist als bei anderen Vertretern dieser inzwischen nicht mehr ganz so ansehnlichen Tradition. Sie sind hierin nur ein durchschnittlicher Träger einer problematischen Gewohnheit, die man einst mit dem Ehrennamen der Kritik umkleidete.

Eine Frage drängt gleichwohl sich auf: Hat es nicht auch zu den Denkfiguren unserer verwelkten Frankfurter Tradition gehört, mit einer "Rache der Dinge" zu rechnen? Was glauben Sie, was geschähe, wenn das Ding Sloterdijk mit einem Mal zu sprechen begänne? Wie wäre es, wenn dieses Ding, dieser Mechanismus, als nervöses An-sich, als schmerzempfindliches Es eine Reaktion zeigte, eine Überreaktion sogar, wer weiß? Wenn das Ding auf den Gedanken käme, eine Ehre zu haben?

Das ausgedehnte Ding namens Peter Sloterdijk bildet sich partout ein, es sei (vortheoretisch natürlich) auch eine res cogitans, mit der man hätte reden können, vielleicht sogar reden sollen. Da Sie sich gegen das Reden-mit und für das Reden-über entschieden haben, besteht - das Ding ist boshaft genug, dies zu betonen - ein diskurspraktisches Defizit, zumal ich als Autor und Verlagskollege nur zehn Ziffern auf Ihrem Telefon (Vorwahl inbegriffen) oder einen Posttag von Ihnen entfernt lebe.

Seltsam genug, Ihr Ding, das sich eine Ehre einbildet, hat noch ein paar andere quasisubjektive Merkmale: Es denkt zum Beispiel gelegentlich in historischen Konstellationen. (Das haben wir, sehr geehrter Herr Habermas, trotz allen sonstigen Unterschieden weiterhin gemeinsam, nur dass Sie eher an die Lage von 1933-1945 denken, Ihren lebensgeschichtlichen Beanspruchungen entsprechend, während ich seit jeher lieber mit vormärzlicher Analogie operiere, aus Gründen, die ich gleich erklären will. So hat jeder von uns seine Wahlvergangenheit, aus deren Kontrast Missverständnisse wahrscheinlich werden.)

Um bei vormärzlichen Bezügen einen Augenblick zu verweilen: Ich weiß nicht, sehr geehrter Herr Habermas, ob Ihnen gegenwärtig ist, welchen Stellenwert die Motive der Schriftstellerehre und der Satisfaktion im Werk des von uns beiden hoch geschätzten Aufklärers Heinrich Heine besaßen und wie er in den dreißiger und vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts einige größere Denunziationsversuche, durch einen gewissen Wenzel und durch Ludwig Börne, beantwortet hat. Da Sie selber mich - in fernen, freundlicheren Tagen -, ich denke, sehr zu Recht, in Heines Tradition eingeordnet haben, darf ich mir hier vielleicht die Beobachtung erlauben, dass auch dieser ein ziemlich ehrenempfindliches Ding war und dass er vor kaum einer verbalen Violenz zurückschreckte, wenn es um Angriffe auf die sensitiven Punkte seiner Existenz ging - sein Judentum, seinen Protestantismus, vor allem aber seine Integrität als Sprecher der emanzipatorischen Tendenzen seiner Zeit. Was mich angeht, so empfinde ich seine Gegenattacken zwar als fulminant, aber nicht immer als vorbildlich, denn Heine schlug manchmal in seinem gerechten Zorn heftiger zu, als für seine Sache gut war. Dennoch verstehe ich, warum er sich gelegentlich wie ein martialisch-heiterer Erzengel des offenen Worts gebärdete. Er mochte die Zensur im Allgemeinen nicht, besonders aber nicht die Zensur durch eifersüchtige Kollegen.

In der Sache hatte Heine Recht. Was er in prozeduraler Hinsicht in seinem Börne-Buch vollzogen hat, diese politische Psychoanalyse des scheinliberalen Charakters am Beispiel eines bekannten politischen Moralisten, das finde ich bewundernswert, und mehr noch, ich finde es aktuell und auf Wiederholung drängend.

Wenn es ein Gutes an Kommunikationsabbrüchen gibt, Herr Habermas, so besteht es darin, dass sie Klarheit begünstigen. Man tritt nicht nur einen Schritt zurück, sondern mehrere, und gibt Illusionen auf. Indem Sie mich verdinglichen, geben Sie mir, Ihrem Ding, eine Chance, interobjektiv auch Ihre Grenzen klarer zu erkennen. In diesem objektiveren Blick auf Sie ist mir zumute, als überschaute ich mit einem Mal ein ganzes Terrain, eine Epoche, ein System von Illusionen. Das Wesen Kritischer Theorie wird in der Dämmerung offenkundig.

Darf ich notieren, was ich jetzt sehe? In ihrer älteren Version (Adorno) war die Frankfurter Schule ein gnostischer George-Kreis von links; sie lancierte die wunderbar hochmütige Initiative, eine ganze Generation in verfeinernder Absicht zu verführen. Sie löste eine tiefe Wirkung aus, die wir unter der Formel vom Eingedenken der Natur im Subjekt zusammenfassen können. In ihrer jüngeren Version (Habermas) war sie ein in Latenz gehaltener Jakobinismus - eine sozialliberale Version der Tugenddiktatur (in Verbindung mit journalistischem und akademischem Karrierismus). Beide Systeme, wenn sie mächtig werden, stellen für normale Demokratien Gefährdungsfaktoren dar - das ältere in nur geringem Maß, weil es aus inneren Gründen nie populär werden kann, das jüngere jedoch umso mehr, weil es überaus häufige und populäre Affekte - das Ressentiment und die Lust am Bessersein - organisiert. Für noch nicht normale Demokratien sind sie hingegen genau das Richtige.

Hegel hatte das Wesen der terreur darin erkannt, dass in ihrem Dunstkreis der Verdacht unmittelbar in die Verurteilung übergeht. In jedem Jakobinismus heißt anklagen auch schon liquidieren. Nie war diese Diagnose aktueller als jetzt, da hocheffiziente Massenmedien Aufputschungen in Realzeit bewirken können (selbst das NS-Regime war technisch langsamer und wesentlich weniger durchsynchronisiert als die totale Öffentlichkeit von heute, auf deren Klaviatur auch Sie, Herr Habermas, sich jetzt nicht ohne Wirkung betätigen).

Mithin: Dass Sie, dieser große Kommunikator, dieser vom eigenen Nicht-Faschismus durchdrungene Diskursethiker aus Deutschland (Ihr nachweislich brüchiges Axiom lautet ja: Faschisten sind immer die anderen), die Medien so zum Einsatz bringen, wie dieser Vorfall es bezeugt, gibt mir Gelegenheit zu bemerken, wie im Konflikt Ihre liberale Maske zerfällt. Ihre diskursethischen Vorwände rücken zunehmend zur Seite und lassen robustere Motive erkennen. Ich brauche nur in dieser Woche die ZEIT zu lesen und den Spiegel, um zu wissen, woran ich mit Ihnen und Ihren ethischen Projekten bin. Sie haben aufgehört, den zwanglosen Zwang des besseren Arguments zu bemühen. Jetzt sind Sie endlich bei dem nicht mehr ganz so zwanglosen Zwang der schnelleren Denunziation (und der schlechteren Lektüre) angekommen. (Ihr verstorbener Kollege Luhmann würde bemerken: also doch Umstellung von Moraldiskurs auf Agitation.)

Auch mich wundert diese Entwicklung nicht wirklich, weil sie nur den ständig möglichen Übergang von liberal-jakobinischer Latenz in jakobinische Explizitheit bezeugt. Das ist nicht neu. Immerhin haben Sie dem Wort Emeritus einen neuen Sinn gegeben.

Ich bitte Sie, mir zu glauben, dass ich Ihnen das alles weniger übel nehme, als Sie vielleicht vermuten. Ich denke jetzt über die universalistischen Gehalte Ihres Verhaltens nach. Sie sind ein Aufklärer wider Willen geworden, in dem Sinne, dass Sie schließlich doch den Ausbruch wagen aus den kontrafaktischen Konstruktionen, die Ihre Kommunikationstheorie als too good to be true erscheinen ließen. Sie wollten endlich einmal offen legen, wie Ihr erweiterter Begriff des kommunikativen Handelns aussieht. Darf man schon wirklich von Ihrer Kehre sprechen? Jedenfalls wissen wir jetzt besser, durch Sie selbst und Ihre gelehrigen Schüler, was Sie unter Diskutieren, unter Denken, unter Zugehen auf Probleme, unter Öffentlichkeit und unter Offenheit verstehen. Sie haben exemplarisch gemacht, wie sich das schlechte Lesen als Waffe einsetzen lässt, und Sie haben eine Szene arrangiert, die uns half zu verstehen, wie bei allzu treuen Schülern die Legasthenie interessante Verbindungen mit dem Opportunismus eingeht. Kann man von einem Aufklärer mehr verlangen?

Aliquid semper haeret, hieß es in der römischen Antike, die bereits ein explizites Wissen über die Rolle der Diffamierung im Konflikt der Ambitionen besaß. Der Satz besagt: Verleumde allemal, weil auch bei völliger Widerlegung eine Rückkehr zum Zustand davor nicht mehr gelingt. Etwas haftet immer. Ich entwickle allerdings soeben eine neue Hypothese über jenes aliquid, das stets hängen bleibt. Jakobiner sind gewiss mit dem römischen haeret-Prinzip besser vertraut als ich, aber auch mir, dem Anti-Jakobiner, springt ins Auge, dass der Satz unbestimmt lässt, an wem das aliquid haften bleiben soll. Bleibt es am Denunzierten, bleibt es am Denunzianten?

Lassen wir es, dieses eine Mal, auf den Versuch ankommen. (Die deutsche Nachkriegsdebattengeschichte zeigt freilich bisher keine ermutigende Bilanz, weil der liberal-jakobinischen Prozessform gemäß der Angegriffene der Verlierer ist. Skandalstatistisch gesehen sind meine Aussichten nach dem Habermas-Assheuer-Mohr-Coup miserabel - es sei denn, es entwickelte sich ein Metaskandal, an dem sich etwas lernen lässt über die Geschäfte der Skandalisten in diesem Land, über die deutsche Entrüstungsindustrie, die Dekadenz der Kritik und die eingeschliffenen Allianzen zwischen Liberal-Jakobinismus und Showsystem.)

Im Grunde ist die Situation so geheimnisvoll nicht: Die Ära der hypermoralischen Söhne von nationalsozialistischen Vätern läuft zeitbedingt aus. Eine etwas freiere Generation rückt nach. Ihr bedeutet die überkommene Kultur des Verdachts und der Bezichtigung nicht mehr sehr viel. Die traumabedingte Retrospektivität der Nachkriegskinder kann ihre Sache nicht mehr sein (ausgenommen diejenigen unter den Jüngeren, die die jakobinische Neurose von den Älteren übernahmen - Söhne von Söhnen, ein Kapitel linker Sozialpsychologie). Die meisten, soweit sie nicht entmutigt sind, denken dem Neuen entgegen, mit einer Freiheit, von der die alten Problemträger nur wenig wissen. Wäre die Sache nicht auch ein wenig tragisch, so wäre Gelächter die einzige richtige Auflösung der Affäre.

Wen wundert es eigentlich, dass in dieser Lage die alten Mentalitätsmachthaber sich vor ihrer Ablösung noch einmal aufbäumen und ihre Schuld und ihre Unfreiheit mit letzter Anstrengung auf die Nachkommen zu legen versuchen? Sie wollen der eigenen Hypermoral ein riesiges Denkmal setzen, und sie wollen einmal noch, wie damals, als kein toter Diktator vor unserem Widerstand sicher war, zur Faschistenjagd aufbrechen.

Ach, lieber Habermas, würde ich am liebsten sagen, es ist vorbei. Die Zeit der Söhne mit dem zu guten und dem zu schlechten Gewissen geht vorüber. Was ist daran so traurig? Es gilt, ein neues Kapitel aufzuschlagen. Was ich philosophisch als Theoretiker des humanen Traums dazu beitragen wollte, zeigen meine beiden letzten Bücher.

Die Kritische Theorie ist an diesem 2. September gestorben. Sie war seit längerem bettlägerig, die mürrische alte Dame, jetzt ist sie ganz dahingegangen. Wir werden uns versammeln am Grab einer Epoche, um Bilanz zu ziehen, aber auch, um des Endes einer Hypokrisie zu gedenken. Denken heißt Danken, hatte Heidegger gesagt. Ich meine eher, Denken heißt Aufatmen.

Mit freundlichen Grüßen Ihr P. Sl.



(c) DIE ZEIT 1999

37/1999

http://images.zeit.de/text/1999/37/199937.sloterdijk_.xml






DIE ZEIT
 
Post vom bösen Geist

Peter Sloterdijk: "Die Kritische Theorie ist tot" - Offener Brief an Thomas Assheuer und Jürgen Habermas, ZEIT Nr. 37

Von Jürgen Habermas

Sloterdijk beschränkt sich auf tangential responses. Statt auf die Kritik von Thomas Assheuer einzugehen, behauptet er, nicht gemeint zu haben, was er geschrieben hat. Er streut dem Publikum Sand in die Augen, wenn er sich nun als harmlosen Bioethiker darstellt. In dieser Situation habe ich zur Sache nichts weiter zu bemerken. Im Übrigen erfindet Sloterdijk eine amüsante Geistergeschichte. Darin gibt es einen großen und einen bösen Geist und viele kleine Geister, die der böse Geist in Dienst nimmt. Weil der Autor diese Rollen jeweils doppelt besetzt, mit imaginären Geistern und Personen aus Fleisch und Blut, kann er ein Doppelspiel treiben, das ich weniger amüsant finde.

Zwar weiß man, dass Sloterdijk die Welt in die Wenigen und die Vielen einteilt. Aber angesichts eines face to face angewandten Platonismus bleibt einem das Lachen im Halse stecken. Während Sloterdijk für die eigene Person eine adornesk-sensible Rücksichtnahme einfordert, behandelt er seine journalistischen Kritiker wie das liebe Federvieh. Sie sollen Aufträge zu Alarmartikeln entgegengenommen haben, in denen der Auftraggeber nicht genannt werden darf. Dazu die folgenden Richtigstellungen: (1) Von Sloterdijks Auftritt in Elmau, dem Vortrag und den anschließenden Irritationen habe ich (wie jeder andere, der es wissen wollte) aus der Presse erfahren. Dann lernte ich auf einem Sommerfest zufällig Rainer Stephan kennen. Gesprächsstoff lieferte der Bericht, den dieser einige Tage zuvor in der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht hatte. Auf Veranlassung von Herrn Stephan erhielt ich am 7. August von Dietmar Müller-Elmau den (während der Tagung presseöffentlich verteilten) Vortragstext. Der liebenswürdige Begleitbrief enthielt keineswegs eine Bitte um diskrete Behandlung, sondern die Anfrage, ob ich weitere Tagungsbeiträge sehen möchte.

(2) Unabhängig von diesem Vorgang bekam ich zur gleichen Zeit von dem israelischen Veranstalter der Elmauer Tagung eine Einladung zu einer weiteren, für den Herbst nächsten Jahres geplanten Konferenz. Aus diesem Anlass, und nicht auf meine Initiative, ergab sich eine Korrespondenz, in der auch von Sloterdijks Auftritt die Rede war ich stand unter dem niederschmetternden Eindruck der Lektüre seines Vortrages. Dass sich Gabriel Motzkin, denn nur um den kann es sich handeln, von meiner Seite "latent erpresserischen Vorwürfen" ausgesetzt gesehen hätte, kann ich mir nicht vorstellen. Als er mich um Rat fragte, habe ich ihm vielmehr gesagt, dass ich mich an seiner Stelle zur strittigen Angelegenheit nicht öffentlich äußern würde.

(3) Sloterdijks Ankündigung in der Frankfurter Rundschau, dass sein Text demnächst erscheinen würde, hat mich veranlasst, den zuständigen Lektor, der davon noch nichts wusste, zu bitten, sich den Text doch einmal anzuschauen.

Bekanntlich bin ich mit dem Suhrkamp-Wissenschaftsprogramm seit den Anfängen eng verbunden. Ich hatte die Befürchtung, dass der Verlag in den nächsten politischen Skandal hineinstolpern würde (dabei denke ich übrigens nicht an Handkes proserbische Einlassungen mit den bizarren Vorstellungen eines bedeutenden Schriftstellers muss ein Verlag leben können).

(4) Leider hat der Artikel von Reinhard Mohr (im Spiegel vom 6. September), dessen Tendenz mir sonst einleuchtet, meine Befürchtung bestätigt. Im Gegensatz zu Sloterdijks Behauptung kenne ich Herrn Mohr nur aus seinen Veröffentlichungen. Weder hatte ich irgendeinen Kontakt mit dem Spiegel, noch habe ich einen solchen indirekt veranlasst.

(5) Es wird niemanden überraschen, dass ich das Menschenrecht auf Zeitgenossenschaft wahrnehme und mich mit Freunden über die politischen und intellektuellen Zeitläufte ab und zu austausche. Zu diesem Kreis gehört seit vielen Jahren auch Thomas Assheuer (der übrigens nicht mein Schüler ist).

Bisher hatten wir nie einen Grund, über Sloterdijk zu sprechen. Das war diesmal anders. Aber Sloterdijk verkennt nicht nur meine publizistischen Einflussmöglichkeiten er macht sich nicht nur ein projektives Bild von der Art meines Ehrgeizes und meiner Motive. Vor allem überschätzt er mein Interesse an seinen Arbeiten und den Aufwand an Zeit und Mühe, den ich in die Lektüre seines Vortrages investiert habe. Auf dieser Grundlage hätte ich eine an Gesichtspunkten so reiche, differenzierte und zutreffende Analyse wie die Assheuersche nicht einmal inspirieren können, wenn es meine Absicht gewesen wäre.

So viel zu meinen "jakobinischen" Umtrieben. Sloterdijk, der ja weiß, dass die Welt nicht so ist, wie der kleine Max sie sich vorstellt, braut sich eine Praxis - angeblich meine Praxis - zusammen, in der sich endlich der jakobinische Gedanke verrät - also jenes Geheimnis eines "in Latenz gehaltenen Jakobinismus", das sich meinen Texten partout nicht entlocken lässt. Es gibt ja Kollegen, die seit mehr als dreißig Jahren nach Belegen für den Verdacht suchen, den Sloterdijk in einer philosophisch besonders anspruchslosen Form erneuert. Er wiederholt reflexionslos die Kulturkritik von Arnold Gehlen am Hypermoralismus der bundesdeutschen Intellektuellen. Der späte Gehlen war ins Ressentiment abgeglitten, aber selbst er hätte wohl gezögert, noch einmal in den Fanfarenstoß von den zitternden morschen Knochen einzustimmen. Der neuheidnische Sloterdijk präsentiert sich als die gesunde Vorhut einer nachrückenden Generation, die sich von der "jakobinischen Neurose der Älteren" losgemacht hat: "Die meisten, soweit sie nicht entmutigt sind, denken dem Neuen entgegen, mit einer Freiheit, von der die alten Problemträger nur wenig wissen."

Nun gehören Todeserklärungen zum Sprachschatz der Avantgardismen unseres Jahrhunderts. Gewiss, das jüngste Beispiel der verblichenen Postmoderne, die von der totgesagten Moderne schon wieder eingeholt worden ist, lässt daran zweifeln, ob die Generationendialektik noch nach dem alten Muster funktioniert. Aber vielleicht verkörpert Sloterdijk wirklich etwas Neues auf dem Markt der Berliner Republik. Vielleicht befriedigt die Mentalität eines 1947 Geborenen, der 1999 von sich behauptet, er könne sich seine Vergangenheit frei aussuchen, eine echte Nachfrage nach Schnittmustern für eine neue Generation. In unserem Fall macht die halbe Generation, die uns trennt, einen Unterschied.

Sloterdijk will diese Differenz mit Argumenten ad hominem markieren, auf die niemand reagieren kann. Besser lässt sie sich wohl an einer Struktur des Denkens deutlich machen - an dem Misstrauen gegen den Gestus des Eingeweihten und des Erwählten, gegen tiefes Denken und den Anspruch auf einen privilegierten Zugang zur Wahrheit. Wenn man es kurz und bündig sagen darf: Meine Generation hat den vornehmen Ton in der Philosophie, der schon Kant und Heine auf den Nerv gegangen war, abgeschafft. Darin steckt die (nur zu: die blauäugige) Überzeugung, dass sich theoretische Auseinandersetzungen nicht in Reputationgerangel erschöpfen dass sich in der Welt, in der Theorien aufeinanderstoßen, am Ende die besseren Argumente durchsetzen und nicht Selbstinszenierungen auf Kosten anderer. Oder sollte sich Sloterdijk über diese Welt längst in jene Höhen erhoben haben, wo das An- und Ausdenken das Nachdenken ersetzt hat?

Jürgen Habermas Starnberg


DIE ZEIT, 38/1999

38/1999


http://images.zeit.de/text/1999/38/Post_vom_boesen_Geist





Backward Forward Post Reply List
http://theology.co.kr