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Zum Tode des großen Heidelberger Gelehrten Gadamer



REGIONAL - HEIDELBERG 15.03.2002

 
Der Philosoph des zwanzigsten Jahrhunderts
Zum Tode des großen Heidelberger Gelehrten Hans-Georg Gadamer
Von Dieter Borchmeyer

Heidelberg ist arm geworden. Sein größter Bürger, der weltweit berühmteste Gelehrte seiner Universität ist tot. Wenige Wochen nach seinem 102. Geburtstag ist Hans-Georg Gadamer gestorben. Philosophen genießen in der Regel mehr Bewunderung als Liebe. Bei Gadamer war das anders. Er wurde wirklich geliebt, denn er war ein Philosoph, dessen Menschenfreundlichkeit und Selbstironie, ja dessen Gesprächszauber bewirkten, dass ihm die Herzen zuflogen, wenngleich sein bis ins höchste Alter unvermindert schlagfertiger Witz auch manches Mal ungewollt verletzen konnte.

Am Spätnachmittag begegnete man ihm oft in seinem geliebten Stammlokal: der Weinstube Florian. Da saß er immer am selben Tisch gleich links hinter der Tür, meist im Gespräch, und wenn man ihn verschämt grüßte, konnte es einem passieren, dass er sagte: "Setzen Sie sich doch zu uns, hier ist noch ein Platz frei. Wir sprechen gerade darüber, ob Lyrik sich übersetzen lässt. Was meinen Sie dazu?" Und das bezaubernde Lächeln des seitwärts gewandten Kopfes verscheuchte sofort jede Befangenheit.

Gadamer wurde wirklich geliebt
In drei Jahrhunderten hat Gadamer gelebt, sein Geburtstag am 11. Februar 1900 fiel ins letzte Jahr des neunzehnten, sein Tod ins zweite Jahr des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Ein solch legendäres Patriarchenalter war noch keinem großen Philosophen vergönnt. Zeitgenosse eines vollen Jahrhunderts, hat Gadamer in seinen Schriften eine Summe der Bildungstraditionen des zweiten Jahrtausends geboten, dessen Schwelle zum dritten er gerade noch überschritt. Ob diese Traditionen auch das Denken des neuen Jahrhunderts und Jahrtausends, in dessen kalter Morgenfrühe wir fröstelnd stehen, nachhaltig bestimmen werden, wer kann es wissen? Vielleicht ist Gadamers Philosophie eine Arche, in der noch einmal versammelt ist, was die breite Wasserflut des Medienzeitalters schon hinwegzuschwemmen begonnen hat.

Die Philosophie ist Gadamer keineswegs in die Wiege gelegt worden. Sein Vater, Professor der Pharmazeutischen Chemie zunächst in Breslau, später in Marburg, wo der Philosoph geboren wurde, war höchst unglücklich darüber, dass gerade sein Sohn zu den "Schwätzprofessoren" überlief - denn nichts anderes waren in seinen Augen die Philosophen und Geisteswissenschaftler.

Gadamer ist für seinen Vater Johannes bis zu dessen Tode ein "verlorener Sohn" geblieben, wie er selbst wehmütig berichtet. Nicht einmal die Tatsache, dass immerhin Martin Heidegger, der bedeutendste Philosoph des vergangenen Jahrhunderts, sein Lehrer und Habilitationsvater war, vermochte den Chemiker Johannes Gadamer zu trösten. Sorgenvoll rief er den Universitätskollegen Heidegger an sein Sterbebett und fragte ihn im Angesicht des Todes, ob denn wirklich die Philosophie eine "Lebensaufgabe" sei, die seinen Sohn materiell und geistig über Wasser halten könne.

Für Johannes Gadamer gab es nur eine Methode: die der exakten Naturwissenschaft. Ausgerechnet sein Sohn aber sollte das naturwissenschaftliche Methodenmonopol in Zweifel ziehen. In seinem Hauptwerk "Wahrheit und Methode" (1960) hat er den Geisteswissenschaften ihren Rückhalt in einer ganz anderen Tradition des Denkens gesichert: derjenigen des praktischen, ethischen Wissens.

Zufall oder Ironie der Geschichte war es, dass der in der Universität Heidelberg mit einer Festlichkeit, wie sie kaum je einem Philosophen zuteil wurde, gefeierte hundertste Geburtstag Gadamers mit dem Jubiläumstag eines anderen großen Denkers der europäischen Moderne zusammenfiel: Genau 350 Jahre zuvor war der französische Philosoph René Descartes am 11. Februar in Stockholm gestorben. Das wichtigste Werk beider Philosophen war jeweils eine Untersuchung über die Methode: der "Discours de la Méthode" von Descartes und "Wahrheit und Methode" von Gadamer. Um "Wahrheit" ging es auch Descartes, aber er verstand sie ganz in dem mathematisch-logischen Sinne, der für die moderne Naturwissenschaft so folgenreich sein sollte. Die erste und wichtigste Methodenregel lautete für Descartes: "niemals eine Sache als wahr anzuerkennen, von der ich nicht eindeutig erkenne, dass sie wahr ist: d.h. Übereilung und Vorurteile sorgfältig zu vermeiden und über nichts zu urteilen, was sich meinen Denken nicht so klar und deutlich darstellte, dass ich keinen Anlass hätte, daran zu zweifeln."

Gadamer hingegen lag daran, die Vorurteile im Denken nicht einfach zu verurteilen, sondern die in ihnen wirksamen Überlieferungen als Bedingungen des Verstehens anzuerkennen. Ebendarum geht es in der "Hermeneutik", der von Gadamer zu neuer Blüte entfalteten philosophischen Disziplin, mit der die Philosophen und Wissenschaftstheoretiker in aller Welt heute seinen Namen verbinden. Wer die geschichtlichen Bedingungen des Verstehens leugnet und glaubt, gänzlich .vorurteilsfrei' zu sein, gerade dem sitzt oft das Vorurteil im Nacken. Es bewusst zu machen und so seinen gefährlichen Infiltrationen vorzubeugen, ist das Ziel von Gadamers Hermeneutik. Sie wendet sich nicht etwa gegen die Aufklärung, sondern betreibt selber deren Geschäft: "Aufklärung gegen den Dogmatismus ihrer selbst", so Gadamer.

Ihm war es stets um Erfahrungsmöglichkeiten von Wahrheit nicht nur in der Philosophie, sondern ebenso sehr in den geschichtlichen Wissenschaften, ja vor allem in der Kunst gegangen. Dabei kam ihm zugute, dass er als Student an den Universitäten von Breslau und Marburg, seiner Geburtsstadt, seinerzeit nicht nur Philosophie, sondern auch andere Geisteswissenschaften betrieben und zumal ein Studium der antiken Sprachen und Literaturen absolviert hatte. Die "geeinte Zwienatur" des Klassischen Philologen und Philosophen bildet das Gepräge von
Gadamers Lebenswerk. Unter seinen Schriften finden sich neben den wegweisenden philosophischen Abhandlungen - vor allem zur Tradition des griechischen Denkens - auch ingeniöse Interpretationen großer Dichtung von Goethe bis Celan.

Zu den bedeutendsten Verdiensten Gadamers gehört sein Beitrag zur philosophischen Wiederentdeckung der Rhetorik, die von der Antike bis ins 18. Jahrhundert ein universales Bildungsinstrument, gewissermaßen die Orgel der alteuropäichen Kultur gewesen ist. Doch seither ist sie gegenüber dem Beweis- und Gewissheitianspruch des modernen wissenschaftlichen Denkens mehr und mehr ins Hintertreffen geraten. Die Rhetorik ist nicht nur ein Lehrgebäude der Redekunst, sondern, wie Gadamer gezeigt hat, ein alternatives Denkgebäude, das im praktischen Wissen gründet, in der Phronesis - über die Heidegger 1923 ein für Gadamer Epoche machendes Seminar hielt -, in dem also, was man im Deutschen etwas verkürzt "Klugheit" nennt. Ihre Leistung besteht darin, sich auf den Augenblick, die Vielfalt der konkreten Situationen des Handelns einzustellen, welche niemals mit einer unveränderlichen Verstandesregel zu erfassen sind. Dieses praktische Wissen hat Aristoteles einst sehr deutlich von dem theoretischen Wissen: der am Vorbild der Mathematik orientierten Beweiswissenschaftunterschieden.

Seit Descartes ist mehr und mehr das Bewusstsein von diesen zwei Weisen des Wissens verloren gegangen. Darunter haben -heute mehr denn je - die Geisteswissenschaften zu leiden. Die Politiker, die sie gegenwärtig so sehr in Bedrängnis bringen, hätten von Gadamer lernen können, dass auch die Politik von der "Klugheit" des praktischen Wissens geleitet sein muss. In den Geisteswissenschaften könnte die Politik ihren Spiegel sehen, anstatt sie gering zu schätzen. Doch welcher Politiker liest schon Gadamer?

Wiederholt hat er bekannt, wie schwer ihm lange das Schreiben gefallen sei, nicht nur weil er stets "das verdammte Gefühl" gehabt habe, sein über alles bewunderter Lehrer Heidegger blicke ihm dabei über die Schulter, sondern weil sein eigentliches Element der mündliche Austausch im Gespräch gewesen ist. Deshalb war er zeitlebens weit weniger ein Schreiber als ein Sprecher und Hörer, dessen Stimme bis in seine letzte Lebenszeit einen Saal ohne Mikrofon zu durchdringen vermochte und dessen Gehör sich nie aufs Altenteil zurückzog.

Im Ruhestand kam der Welterfolg
Bis zu seinem sechzigsten Lebensjahr -eben bis zu "Wahrheit und Methode" - hat er kein umfangreiches Buch geschrieben, und der Löwenanteil seiner in zehn Bänden vorliegenden "Gesammelten Werke" ist erst entstanden, als er in den "Ruhestand" trat. Man kann dieses Wort nur in Anführungszeichen setzen, denn der Ruhestand sollte der unruhigste Stand seines Lebens werden. Als er im Jahre 1968 emeritiert wurde, hatte gerade der Welterfolg von "Wahrheit und Methode" eingesetzt. Reisen führten ihn nun durch fast alle Kontinente. Gadamer wurde zum weltweit berühmtesten deutschen Philosophen und Geisteswissenschaftler unserer Zeit.

Leidenschaftlicher Lehrer und Dialogpartner von jeher, hielt er bis zuletzt philosophische Sprechstunden in seinem alten Seminar an der Ruprecht-Karls-Universität zu Heidelberg, die ihn 1949 zum Nachfolger von Karl Jaspers berufen hatte. Er erreichte damit nach seinen Worten "das Ziel seiner akademischen Laufbahn". Genau die Hälfte seines Lebens hat Gadamer in Heidelberg gewirkt. Vorher lehrte er viele Jahre an der Universiät Leipzig, zu deren Rektor er 1946/47 gar mit sowjetischer Billigung werden konnte, da seine Integrität im Dritten Reich außer Zweifel stand. Die Heidelberger Philosophie der letzten Jahrzehnte war und ist geprägt von Gelehrten aus seiner Schule wie Dieter Henrich, Friedrich Fulda, Reiner Wiehl, Wolfgang Wieland und dem jüngsten in dieser Reihe: Rüdiger Bubner. Die im vergangenen Jahr geschaffene, mit seinem Namen ausgezeichnete philosophische Stiftungsprofessur ist das schönste Zeichen der Verpflichtung dem großen Philosophen gegenüber.

Gadamers Grundsatz, immer für das Gespräch bereit zu sein, schloss die Tugenden der Bescheidenheit und des Hörenkönnens ein, überdies nach seinen Worten die Fähigkeit, "das mögliche Recht, ja die Überlegenheit des Gesprächspartners im voraus anzuerkennen". Seine ungebrochene geistige Präsenz bis zu seinem Tod zeigte Gadamer nicht nur in Vortrag und Gespräch, sondern auch bei einer anderen Leidenschaft: dem Schachspiel. Einer seiner Partner - mehrere Jahrzehnte jünger als er - erzählte unlängst nach einem Spiel, in dem der über Hundertjährige ihn wieder einmal schachmatt gesetzt hatte: "Ich komme gegen den Alten nicht an; der spielt mir zu systematisch." Was der Philosoph Gadamer mitnichten sein wollte, scheint der Schachspieler durchaus gewesen zu sein: ein Systematiker. Doch vielleicht ist verborgene Systematik auch das Geheimnis seiner Philosophie.

Prof. Dieter Borchmeyer ist Ordinarius für Neuere deutsche Literatur und Theaterwissenschaft am Germanistischen Seminar der Universität Heidelberg



Die Vita von Hans-Georg Gadamer
1900 Hans Georg Gadamer wird am 11. Februar in Marburg geboren
1907-1919 Schule zum Heiligen Geist in Breslau
1918-1919 Studium der Philosophie in Breslau
1919-1922 Studium der Philosophie in Marburg
1922-1923 Promotion bei Paul Natorp, Besuch von Vorlesungen bei Martin Heidegger und Edmund Husserl in Freiburg
1924-1927 Studium der Klassischen Philologie in Marburg
1929 Habilitation in Philosophie bei Heidegger
1937 Ernennung zum außerordentlichen Professor in Marburg
1939 ordentlicher Professor in Leipzig
1946-1947 Rektor der Universität Leipzig
1947-1949 ordentlicher Professor in Frankfurt/Main
1949-1968 ordentlicher Professor in Heidelberg (Nachfolger von Karl Jaspers)
1960 Erscheinen von "Wahrheit und Methode"
1968 Emeritierung, Präsident der Heidelberger Akademie der Wissenschaften
1968-1988 Lehrtätigkeit an verschiedenen ausländischen Universitäten (USA, Kanada, Italien)
1985-1995 Erscheinen der "Gesammelten Werke" in zehn Bänden
2002 Hans-Georg Gadamer stirbt am 13. März in Heidelberg.

Über Hans-Georg Gadamer
Jean Grondin. Hans-Georg Gadamer. Eine Biographie. J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen. 1999. 437 S.
Begegnungen mit Hans-Georg Gadamer. Hrsg. von Günter Figal. Reclams Universal-Bibliothek Nr. 18029.176 S.



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