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2007/04/27 (15:00) from 84.173.190.66' of 84.173.190.66' Article Number : 506
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Der gerechtfertigte Sünder




 Universität Duisburg-Essen, Institut für Evangelische Theologie
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Jüngel, Eberhard (1998) Evangelium von der Rechtfertigung des Gottlosen als Zentrum des christlichen Glaubens. Tübingen, 146 - 169 (ohne Kursivdruck und Anmerkungen!)

§5. Der gerechtfertigte Sünder, II. Allein aus Gnade (sola gratia)

1. Gnade - im Recht und in der Theologie

Der rechtfertigende Gott ist ein gnädiger Gott. Er ist mit seiner Gnade im Recht. Er ist es in der Person Jesu Christi, in der sich Gottes Gnade ihr Recht verschafft hat. Wenn aber allein in der Person Jesu Christi über die Gerechtigkeit des Menschen entschieden wird und wenn in dieser Person und nur in ihr sich Gottes Gnade Recht verschafft hat, dann wird der Sünder allein aus Gnade gerechtfertigt.

Bevor wir genauer danach fragen, was mit der Exklusivpartikel allein aus Gnade positiv und negativ zur Geltung gebracht werden soll, dürfte eine kleine Besinnung auf den theologischen Begriff der Gnade angebracht sein, uni das Besondere in der Rede von der Gnade Gottes gegenüber dem, was sonst »Gnade« heißt, herauszustellen.

Weltliche Gnade hat ihren Sitz im Leben im Rechtswesen. Ein weltlicher Gnadenakt ist ein Rechtsakt, in dem dem Begnadigten etwas zugesprochen wird, was ihm eigentlich nicht zusteht. In diesem Sinne muß gnädig sein nicht unbedingt heißen: barmherzig sein. Am heute noch lebendigen politischen <147:> Gnadeninstitut kann man sich das schnell vor Augen führen. Der Bundespräsident und die Ministerpräsidenten der Länder, die das Gnadenrecht in der Bundesrepublik Deutschland haben, müssen, wenn sie von diesem Gnadenrecht Gebrauch machen, den oder die zu Begnadigenden gar nicht persönlich kennen. Sie entscheiden nach Aktenlage. Gnade in diesem Sinne ist Herablassung im besten Sinne des Wortes. Das Recht läßt sich herab zum Ungerechten. Und es versetzt den Ungerechten, den das Gesetz als Ungerechten identifiziert und verurteilt hat, in ein neues Verhältnis zur Rechtsgemeinschaft: er wird durch das Gnadenrecht erneut zu einem gemeinschaftsfähigen Menschen gemacht. Das Gnadenrecht ist insofern zwar ein außergerichtliches /54/ Recht des Souveräns (oder eines seiner Repräsentanten), es setzt aber den Begnadigenden nicht selber in ein persönliches Verhältnis zum Begnadigten. Gnade in diesem Sinne heißt noch nicht notwendig, daß das Herz des Begnadigenden dabei ist, daß also der Akt der Gnade ein Akt der Barmherzigkeit im strengen Sinne des Wortes ist. Er kann z.B. nichts anderes als ein wohlerwogener Akt politischer Klugheit sein.

Wenn wir im theologisch emphatischen Sinne von Gnade reden und innerhalb der Rechtfertigungslehre die Exklusivpartikel sola gratia zur Geltung bringen, dann ist hingegen immer zugleich ein Akt der Barmherzigkeit, ein Akt göttlicher Barmherzigkeit, ein das Herz des Begnadigenden mobilisierender Akt mitgemeint. Gott läßt sich nicht nur herab, wenn er den Sünder aus Gnaden rechtfertigt, sondern er erbarmt sich des Sünders. »Es jammerte ihn« heißt es im Neuen Testament oft, wenn von Jesus aus gesagt wird, daß er sich erbarmt. Genau das ist gemeint, wenn von Gottes Gnade die Rede ist: Es jammerte ihn aber des Volks. Er erbarmte sich seiner. Es jammerte ihn des Sünders in seinem Elend. Deshalb erbarmte er sich seiner. Gnade im theologischen Sinn des Wortes ist nicht nur eine den Empfänger der Gnade ganz und gar bestimmende, sie ist auch eine den Begnadigen den im Zentrum seiner Existenz konkurrenzlos bewegende Größe. Reden wir von der Rechtfertigung des Gottlosen allein aus Gnade, dann wird damit im Blick auf Gott behauptet, daß sein Herz ganz und gar von seiner Gnade bestimmt wird. Und es wird im Blick auf den Menschen behauptet, daß ihn nur dieses ganz und gar barmherzige Herz Gottes und sonst nichts zu einem gerechten Menschen macht./55/ <148:>

2. Gnade als Konstitutiv der Liebesgemeinschaft von Gott und Mensch

Allein aus Gnade, sola gratia wird der Mensch vor Gott deshalb gerecht, weil er allein wegen Christus gerechtfertigt wird. Denn Christus allein ist der vollkommene Ausdruck und Vollzug der göttlichen Barmherzigkeit. Soll die christologische Exklusivpartikel ausschließen, daß der Mensch außer Jesus Christus noch irgendeinen anderen Heilsvermittler (oder irgendeine weitere Heilsvermittlerin) haben könne, so stellt die Exklusivpartikel sola gratia sicher, daß alles, was Gott der Menschheit in Jesus Christus, durch ihn und um seinetwillen zugewendet und angetan hat, ein bedingungsloses göttliches Geschenk, daß die Rechtfertigung des Sünders ein ihm allein - wie Luther im Kleinen Katechismus" bereits auf den Schöpfungsartikel bezogen formuliert - »aus lauter väterlicher, göttlicher Güte und Barmherzigkeit ohne all mein Verdienst und Würdigkeit« widerfahrendes Ereignis ist. Wäre die Rechtfertigung des Gottlosen nicht sola gratia, sondern wenigstens partim auch um meiner Verdienste und Qualitäten willen geschehen, dann wäre sie auch nicht allein wegen Christus geschehen, dann hätte sie auch außer und neben Gott noch eine weitere Ursache. Das sola gratia wahrt und sichert das solus Christus. »Es geht also uni den Artikel > Christus allein<, wenn von der Rechtfertigung >sola gratia< gesprochen wird. sondern schafft ihn sich« ./58/ Der amor Dei, Gottes Liebe, richtet sich gerade auf das Nicht-Liebenswerte, auf das Häßliche und macht es durch den Akt schöpferischer Liebe liebenswert und schön ./59/ Soviel zur Differenz zwischen menschlichen Liebesgemeinschaften und der Liebesgemeinschaft von Gott und Mensch, die durch Barmherzigkeit konstituiert ist. Gott erbarmt sich dessen, der ganz und gar nicht liebenswert ist.

3. Sola gratia - kontroverstheologisch

Doch wir müssen die durch das sola gratia abzuwendende Gefahr einer Perversion der Rechtfertigungslehre noch genauer bestimmen: wogegen wendet sich die Formel allein aus Gnade genauerhin?

Die Exklusivpartikel, die das Rechtfertigungsgeschehen als exklusiv durch Gottes Gnade ermöglicht und ins Werk gesetzt versteht, schließt den Menschen in pointierter Weise als eine aktiv an seiner Rechtfertigung beteiligte Größe aus. Die Wendung sola gratia soll in besonderer Weise sicherstellen, daß der Sünder unfähig ist, sich selbst zu rechtfertigen und für seine Rechtfertigung in irgendeiner Weise tätig zu werden. Gott kann, das soll die Exklusivpartikel sola gratia herausstellen, beim Menschen an nichts anknüpfen, wenn er den Sünder rechtfertigt: an nichts als allein an seine Sünde. Und der Sünder kann an nichts anknüpfen als allein an Gottes Gnade, wenn es um seine Rechtfertigung geht.

Die Reformatoren haben dieselbe Intention, die die Exklusivpartikel sola gratia positiv formuliert, deshalb negativ dadurch zur Geltung gebracht, daß sie dem Sünder eine für die aktive Beteiligung am Rechtfertigungsgeschehen unfähige, weil durch die sogenannte Erbsünde in geistlicher Hinsicht - also im Blick auf das Verhältnis zu Gott - völlig verderbte menschliche Natur attestierten. Die reformatorische Lehre von der für ein Gott wohlgefälliges Handeln völlig unfähigen menschlichen Natur hatte ihre Spitzenaussage in der Bestreitung des freien Willens. Daß der Sünder Gott gegenüber keinen freien Willen hat, war eine für die damalige Kirchenlehre (und ebenso für die Humanisten) ärgerliche These. Luther hatte alsbald den Widerspruch Roms gefunden. Seine Behauptung, »der freie Wille ist nach dem Sündenfall nur dem Namen nach etwas und wenn [der Sünder] tut, was in ihm ist, dann sündigt er tödlich«,/60/ hat <150:> Papst Leo X. in der Bulle Exsurge Domine (vom 15. Juni 1520) als einen der »Irrtümer Martin Luthers« verurteilt./61/ Luther hat darauf nicht nur mit der Verbrennung dieser Bannandrohungsbulle (am 10. Dezember 1520) geantwortet, sondern auch mit der Wiederholung und Verschärfung seiner These, in der er den freien Willen (das liberum arbitrium), den er zunächst nur eine Sache allein dem Namen nach (eine res de solo titulo) genannt hatte, nunmehr auch noch als einen »Namen ohne Sache« (titulus sine re) kennzeichnete./62/ Dagegen hat dann das Konzil zu Trient erklärt: »Wer behauptet, der freie Wille des Menschen sei nach dem Sündenfall Adanis verloren oder ausgelöscht worden, oder er sei nur eine Sache dem Namen nach, ja sogar ein Name ohne Sache, und schließlich: er sei eine vom Satan in die Kirche eingeführte Erdichtung, der sei ausgeschlossen«.` In diesem Zusammenhang hat das Konzil konsequenterweise auch die Behauptung verworfen, »alle Werke, die vor der Rechtfertigung getan werden, seien, aus welchem Beweggrund auch immer sie getan sein mögen, wahrhaft Sünde und verdienten Gottes Haß; oder: je heftiger einer sich bemühe, sich auf die Gnade hin zu bereiten, desto schwerer sündige er . ..«/64/ Umgekehrt hat wiederum -veranlaßt durch den innerlutherischen Streit zwischen Flacius Illyricus und den Seinen einerseits und Victorinus Strigel und seinen Anhängern andererseits - die lutherische Konkordienformel in ihrer Epitome erklärt: die Erbsünde ist nicht »eine schlichte, sondern eine so tiefe Verderbung menschlicher Natur, daß nichts Gesundes oder Unverderbtes an Leib, Seele des Menschen, seinen innerlichen und äußerlichen Kräften geblieben« ist, »sondern wie die Kirche singt: >Durch Adams Fall ist ganz verderbt menschlich Natur und Wesen<«./65/ in der Solida Declaratio heißt es noch schärfer: »Daher der natürliche freie Wille seiner verkehrten Art und Natur nach allein zu demjenigen, das Gott mißfällig und zuwider ist, kräftig und tätig ist«./66/ <151:>

Der Gegensatz zwischen der reformatorischen und der römisch-katholischen Auffassung über die Fähigkeit des gottlosen Menschen, am Geschehen seiner Rechtfertigung durch Gott mitzuwirken, scheint demnach unüberbrückbar zu sein. Doch dieser Schein trügt - das behaupten jedenfalls in jüngster Zeit eine Reihe von maßgeblichen Theologen. Seit Hans Küngs /67/ Versuch, die prinzipielle Vereinbarkeit der tridentinischen Rechtfertigungslehre mit der protestantischen - genauerhin mit der von Karl Barth vertretenen - Auffassung von der Rechtfertigung des Gottlosen nachzuweisen, hat es eine Reihe von weiteren Verteidigungsversuchen in dieser Sache gegeben. Dazu gehören auch die »offiziellen« Annäherungsversuche zwischen den Amtskirchen, nicht zuletzt die - aus Anlaß eines Deutschlandbesuches von Johannes Paul 11. angeregte - Überprüfung der gegenseitigen Lehrverurteilungen des 16. Jahrhunderts, die die »Gemeinsame Ökumenische Kommission« dann durchgeführt hat und im Blick auf die Rechtfertigungslehre (aber nicht nur im Blick auf sie) dahin geklärt zu haben behauptet, daß »die damals ausgesprochenen Verwerfungen ... die Bedeutung von heilsamen Warnungen« für beide Konfessionen zwar behalten,/68/ daß sie aber »nicht mehr mit kirchentrennender Wirkung den Partner von heute« treffen ./69/ Auf protestantischer Seite gab es allerdings heftigen Protest. So hat Jörg Baur in einer Streitschrift, die allerdings wenig theologisches Interesse an einer ökumenischen Verständigung erkennen läßt, die Behauptung, daß die beiderseitigen Verwerfungsaussagen des 16. Jahrhunderts in Sachen Rechtfertigung des Sünders heute keine kirchentrennende Wirkung mehr hätten, als »unbegründet« zurückgewiesen /70/ und sogar das - die alten Texte angeblich umdeutende und so die Gewissen in die Irre führende - Verfahren der Kommission als »geistliches Gift« bezeichnet./71/ Die Interpretationen der Sätze des 16. Jahrhunderts durch den Ökumenischen Arbeitskreis sind in der Tat historisch oft fragwürdig. Nicht selten wird der Ernst der damaligen Kontroverse unterlaufen. Man sollte aber die gegenwärtige römisch-katholische Lehre nicht auf den damaligen Stand der Kontroverse zurückdrehen. Und auch die evangelische <152:> Theologie selber darf sich nicht als bloße Repetition der reformatorischen Sätze des 16. Jahrhunderts mißverstehen. Es könnte durchaus sein, daß Kontroversen von damals heute obsolet geworden sind, weil wir das Evangelium von der Rechtfertigung des Sünders heute in ganz anderen Frontstellungen vielleicht sogar ohne jede konfessionelle Frontstellung - vernehmen und verstehen. Es könnte sein, daß tiefere Einsichten in die biblischen Texte uns aus Kontroversen der Vergangenheit befreien, so daß bestimmte Sätze früherer Zeiten heute als unzureichende Bestimmungen der Wahrheit des Evangeliums erscheinen.

Das gilt gewiß von der Behauptung Luthers, durch die Sünde sei die Gottebenbildlichkeit des Menschen zur Teufelsebenbildlichkeit pervertiert: »Adam ist zum Ebenbild Gottes geschaffen worden, das er sündigend zugrunde gerichtet hat; und [statt dessen] hat er das Ebenbild des Teufels angezogen«./72/ Denn die Gottebenbildlichkeit des Menschen ist nach unserer heutigen exegetischen und dogmatischen Einsicht allein in Gott selbst begründet und eben deshalb dem Zugriff des Menschen entzogen. Wenn man nun aber die richtige reformatorische These, daß der Sünder gegenüber Gott keinen freien Willen habe, daß der Wille des Menschen vielmehr immer »besetzt« sei entweder von Gott oder vom Teufel -, mit der verunglückten Rede vom Ebenbild des Teufels parallelisiert und wenn man die Rede von der gänzlichen Verderbnis des menschlichen Wesens - »durch Adams Fall ist ganz verderbt menschlich Natur und Wesen« - ebenfalls im Sinne der Rede voll der imago diaboli auffaßt, dann wird der Einspruch der römisch-katholischen Seite plausibel. Geht man dagegen davon aus, daß die Gottebenbildlichkeit des Menschen auch durch die Sünde nicht zerstört werden kann, und zwar deshalb nicht, weil sie in Gottes Treue begründet ist, dann wird man behaupten müssen, daß die ontologischen Strukturen des Menschseins durch die Sünde zwar nicht zerstört werden können, daß aber die ontisch-existentielle Verwirklichung dieser ontologischen Strukturen ganz und gar von der Sünde bestimmt ist. Die reformatorische Rede von der Knechtschaft des menschlichen Willens gegenüber Gott läßt sich dann besser und treffender zur Geltung bringen. Denn davon ist auch in der veränderten theologischen Situation der Gegenwart nicht abzuweichen: daß der Sünder für seine eigene Rechtfertigung schlechterdings nichts tun kann. Es ist also auch eine tätige Vorbereitung des Sünders auf die ihm widerfahrende Rechtfertigung gänzlich ausgeschlossen. Diese Einsicht bejahen hieße allerdings, eine ganze Reihe von tridentinischen Aufstellungen für hinfällig zu erklären. Es ist schlechterdings nichts <153:> »Gutes im Sünder« anzuerkennen, /73/ was zum Rechtfertigungsgeschehen einen Beitrag zu leisten vermag. Sondern hier geschieht alles allein aus Gnade. Daß der Mensch wie Maria mit seinem Glauben und Gehorsam dabei ist und dabei sein muß, wenn es um sein Heil geht, dagegen ist schlechterdings nichts einzuwenden. Wir werden Maria in dieser Hinsicht unsererseits als Urbild des glaubenden Menschen zu würdigen haben./74/ Aber als causa salutis kommt der glaubende Mensch, kommt also auch Maria in keiner Weise in Betracht.

4. Entweder Gnade oder Leistung

Mit der Interpretation des Rechtfertigungsgeschehens als eines allein aus Gnade sich ereignenden Geschehens wird der Mensch als an seiner eigenen Rechtfertigung aktiv Beteiligter ausgeschlossen. Es soll genau das ausgeschlossen werden, was das Zweite Vaticanum mit einigen Kirchenvätern von Maria behauptet hatte: daß sie nämlich von Gott nicht bloß passiv (mere passive) am Heilswerk beteiligt worden sei, sondern durch freien Glauben und Gehorsam am Heil der Menschheit mitgewirkt habe, so daß sie sogar für sich selbst eine causa salutis, eine Heilsursache sei./75/ Nein - sagt die Exklusivpartikel sola gratia zu solchen Aufstellungen. Kein Mensch - und also auch Maria nicht hat bei der Rechtfertigung des Sünders aktiv mitgewirkt als allein der Mensch Jesus. Und auch der hat gerade nicht mitgewirkt, sondern nur eben gelitten.

Es ist genauerhin der Begriff einer vom Menschen aufzuweisenden Leistung, der durch den Begriff der Gnade ausgeschlossen und durch die Hinzufügung der Exklusivpartikel sogar emphatisch ausgeschlossen wird. Die particula exclusiva sola gratia folgt dem paulinischen Sprachgebrauch. »Dem, der etwas leistet, wird der Lohn nach Verdienst zugerechnet, nicht aber nach Gnade« (Röm 4,4). Im Leistungszusammenhang hat die Gnade keinen Platz; sonst würde sowohl das Wesen der Leistung (und damit das der Pflicht!) wie das Wesen der Gnade pervertiert werden. Wohlgemerkt: auch das Wesen der Leistung würde verfehlt werden, wenn dem, der etwas leistet, der Lohn statt nach Verdienst nach Maßgabe der Gnade zugerechnet würde. Leistung und Gnade gehören nicht in denselben, sondern in einen jeweils anderen kategorialen Zusammenhang. Paulus schließt Röm 4,4 nicht nur den besonderen Fall aus, daß einem, der etwas leistet, der Lohn »nach Gnade« berechnet wird, sondern er schließt schon die Möglichkeit als in sich unsinnig aus, daß der Lohn aus Gnade zugerechnet wird. »Der Arbeiter ist seines Lohnes wert« (Lk 10,7)! <154:> Aus Gnade Lohn zu berechnen ist pervers./76/ Lohn wird verdient. Und wer höheren Lohn zahlt, als die geleistete Arbeit verdient, der ist großzügig, aber nicht gnädig. Mit dem Begriff der Gnade vollzieht sich eine metabasis eis allo genos, vollzieht sich ein Wechsel in eine andere Kategorie.

So wie nach Röm 4,4 die Leistung prinzipiell eine Belohnung aus Gnade ausschließt, so schließt umgekehrt nun auch der Begriff der Gnade den Begriff der Leistung aus: »Wenn aber aufgrund von Gnade, dann [prinzipiell] nicht mehr aufgrund von Leistungen; denn sonst wäre die Gnade [eben] nicht mehr Gnade« (Röm 11,6)! Solange der Mensch vor Gott, solange er für seine Anerkennung durch Gott etwas leisten zu müssen meint, gönnt er sich also selbst das Gute nicht, das Gott ihm in Jesus Christus bereits zugedacht und zugewendet hat. Solange der Mensch aus Leistungen gerecht werden will, ist er sich selbst nicht gnädig. Und was gibt es in dieser Welt Schlimmeres als einen sich selbst ungnädigen Menschen? Der Gottes Gnade verachtende Mensch ist notwendig der sich selber ungnädige Mensch, der am Ende an Gott und an sich selbst verzweifeln muß, und das, ohne wirklich verzweifeln zu können. Wer hingegen allein der Gnade Gottes vertraut, muß nicht mehr an Gott verzweifeln (und kann vielleicht sogar an sich selbst verzweifeln). Er ist seiner Verzweiflung an Gott überhoben. Er freut sich - nicht unbedingt, doch möglichst auch seiner selbst, auf jeden Fall aber - Gottes. Denn er ist sich Gottes als eines gnädigen Gottes gewiß.

Daß Gott in der Person Jesu Christi sich als ein gnädiger Gott erwiesen hat, besagt also negativ: daß durch die Person Jesu Christi die menschliche Leistung aus dem Gottesverhältnis ausgeschlossen ist. Nicht was der Mensch verdient, sondern was dem Menschen geschenkt wird, bestimmt das durch die Person Jesu Christi konstituierte GottesverhäItnis. Deshalb wird von dein Fleisch gewordenen Logos und eingeborenen Sohn Gottes Job 1,14 gesagt, er sei »voller Gnade und Wahrheit«. Deshalb wird Job 1,16 das in ihm eröffnete Gottesverhältnis bestimmt durch die elementare Feststellung: »Von seiner Fülle haben wir alle empfangen, und zwar Gnade um Gnade«. Denn - so erläutert auch das Johannesevangelium den Begriff der Gnade sofort durch die Antithese zum Begriff (nun nicht der Leistung, wohl aber) des (die Leistungen fordernden) Gesetzes - »das Gesetz ist durch Mose gegeben; die Gnade und die Wahrheit ist durch Jesus Christus Ereignis geworden« (Joh 1, 17).

Die johanneische Wendung »Gnade um Gnade« sagt auf ihre - die Gnade sozusagen reduplizierende - Weise positiv dasselbe, was die Exklusivpartikel sola gratia abgrenzend formuliert: um für das Verhältnis zu Gott verhältnisfähig <155:> und verhältnisgerecht zu werden, ist der Mensch ganz und gar und ausschließlich auf Gottes Gnade angewiesen. Der Mensch selbst hingegen kann für sein Zusammensein mit Gott nichts, gar nichts tun. Er kann nur empfangen. Er ist tatsächlich rein passiv (mere passive) an seiner Rechtfertigung beteiligt./77/ Genau das aber hat die römisch-katholische Kirche bestritten. In der neuesten Äußerung zur Sache beanstandet der Vatikan »die Verwendung des Ausdrucks >mere passive<« und beruft sich dafür ausdrücklich auf das Rechtfertigungsdekret des Konzils von Trient./78/

77 Was heißt mere passive? Was heißt: der Mensch ist als Täter ausgeschlossen aus dein Geschehen seiner Rechtfertigung, uni so gerade in der richtigen Weise in dieses Geschehen einbezogen zu sein? Was heißt Passivität im Gegensatz zur Tat? Es gibt höchst unterschiedliche Weisen von Passivität. Und es empfiehlt sich auch hier, präziser zu bestimmen, was gemeint ist, wenn wir sagen: der Mensch, auch Maria, auch der Mensch Jesus ist durch seinen passiven Gehorsam, ist jedenfalls nur passiv an der Rechtfertigung beteiligt.
   Es gibt die Passivität toten Materials. Der Marmorblock, aus dem der Künstler seine Skulptur macht, ist passiv gegenüber dem, was der Künstler tut. >Da, da spanne sich des Fleißes Nerve, / Und beharrlich ringend unterwerfe / Der Gedanke sich das Element« (F Schiller, Das Ideal und das Leben, 203). Von einer solchen Passivität ist nicht die Rede, wenn von der Passivität, von dein Ausschluß des Tätigseins des Menschen bei der Rechtfertigung die Rede ist. Vielmehr ist das (alttestamentliche) Modell für die ausschließlich passive Beteiligung des Menschen an seiner Rechtfertigung der Sabbat, an dem der Mensch in eine höchst lebendige, spontane und kreative Untätigkeit versetzt wird. Wobei das Nicht-Wirken am Sabbat nicht selber eine Leistung werden darf. Auch daran erkennt man, wie dialektisch der Begriff der Passivität ist. Man kann das Nichts-Tun ja durchaus als Leistung empfinden. Man würde so gern handeln, und nun ist man gezwungen, nichts zu tun; deshalb leistet man das Nichts-Tun. Das ist selbstverständlich nicht gemeint, wenn auf den Sabbat verwiesen wird, sondern der Sabbat ist deshalb der Tag der kreativen Passivität, weil er der Tag des Feierns ist. Und wenn der Sünder dann, wie Maria, sagt: »mir geschehe wie Du gesagt hast« (Lk 1,38), darin wird man tunlichst nicht behaupten, daß der Mensch damit Gott und seinem Handeln Raum gibt. Man wird dann nur eben dies behaupten können, daß der Mensch Gott den Kaum läßt, den Gott sich nimmt, den Gott schafft. Das ist die Spontaneität in der Passivität: daß man Gott den Raum läßt, den Gott sich nimmt, den Gott sich - und uns! - schafft. Nochmals anders formuliert: Indem Gott den Menschen rechtfertigt, öffnet er den Menschen für sein Gemeinschaft schaffendes Wort, für seine Gemeinschaft schaffende Gnade. Nicht der Mensch öffnet sich für Gott, sondern Gott ist der den Menschen Öffnende. Und der Mensch läßt sich dieses Geöffnetwerden gefallen, wohlgefallen. Dieses Passiv-Sein voller Wohlgefallen an dein, was einen) von Gott her widerfährt, ist gemeint, wenn wir sagen, mere passive sei der Mensch an seiner Rechtfertigung beteiligt, und wenn wir dem widersprechen, daß Maria oder irgendein anderer Mensch noch anders als mere passive am Rechtfertigungsgeschehen beteiligt sei.

78 Antwort der Katholischen Kirche auf die Gemeinsame Erklärung zwischen der Katholischen Kirche und dein Lutherischen Weltbund über die Rechtfertigungslehre, epd-Dokumentation, Nr. 27a/1998, 1-3, 2 (Präzisierungen 3). Vgl. dazu E. Jüngel, Amica Exegesis einer römischen Note, ZThK.B 10 (1998).

<156:>

5. Die Exklusivpartikel sola gratia im Tridentinum

a) Allein aus Gnade?

Die Differenz zwischen den Aufstellungen der Reformatoren über die Rechtfertigung des Gottlosen und den entsprechenden tridentinischen Sätzen genau zu bestimmen ist einigermaßen kompliziert.

Die Einschätzung der tridentinischen Rechtfertigungslehre ist bis heute umstritten. Daß auf evangelischer Seite die negativen Urteile überwiegen, ist schon von der Tatsache her verständlich, daß die von dem Reformkonzil beschlossenen Verwerfungen weitgehend gegen die reformatorische Rechtfertigungslehre gerichtet sind: 29 der 33 Canones sind antireformatorisch. Aber selbst gegen das, was das Konzil in Sachen Rechtfertigung positiv zu sagen hatte, erhob sich von Anfing an protestantischer Protest. Zu seiner Zeit berühmt wurde das Examen, das der lutherische Theologe Martin Chemnitz mit den Sitzen des Konzils veranstaltet hatte./79/ Doch auch noch in unseren Tagen kommt die - sich selbst immerhin als ökumenisch aufgeschlossen` verstehende - Kirchliche Dogmatik Karl Barths zu einem vernichtenden Urteil: »Das Rechtfertigungsdekret des Trienter Konzils..., in welchem die römische Kirche der reformatorischen Lehre gegenüber offiziell Stellung bezogen und sich, wie man leider annehmen muß, für alle Zeiten festgelegt hat, ist ein theologisch kluges und in manchen Zügen nicht unsympathisches Dokument, das denn auch oberflächliche protestantische Leser gelegentlich zu der Frage veranlaßt hat, ob darüber nicht zu reden sein möchte. Bei genauerem Studium wird man sich doch nicht verbergen können, daß seinen Vertretern weder das, was die Reformatoren, noch auch das, was den Paulus in dem Fragekreis >Glaube und Werke< bewegt hatte, auch nur von ferne Eindruck gemacht zu haben scheint. Und schlimmer als das ist der Grund dieses Unverständnisses: daß ihnen das, was wirklich nicht erst den Reformatoren, sondern schon dem Apostel als die Hoheit der Rechtfertigung in ihrem Charakter als eines göttlichen Werkes für den Menschen vor Augen stand, eine unbekannte Größe war ... Es ist schwer, in der Rechtfertigungslehre des Tridentinums etwas Besseres als ein im Sinne des Paulus >anderes Evangelium< zu erkennen. Ihr fehlt alles Oberlicht«./81/ Dem hat nun allerdings Hans Küng mit der These widersprochen, daß Barths eigene Rechtfertigungslehre - aber nicht nur die Barths - mit dem recht verstandenen tridentinischen Rechtfertigungsdekret übereinstimme, so daß »gerade in der Rechtfertigungslehre, wo die reformatorische Theologie ihren Ausgang genommen hatte, heute wieder grund-<157:>sätzlich Übereinstimmung besteht zwischen katholischer und evangelischer Theologie«./82/ Wenn das der Fall ist, dann muß sich diese Übereinstimmung nicht zuletzt darin erweisen, daß die particulae exclusivae auf beiden Seiten bejaht werden können.

Wir wenden uns dem tridentinischen Rechtfertigungsdekret mit der Frage zu, wie hier Gottes Gnade im Rechtfertigungsgeschehen zur Geltung gebracht wird. Rein formal wird auch von den römisch-katholischen Lehramtsäußerungen die Rechtfertigung des Sünders ganz und gar von Gottes Gnade her verstanden. Die reformatorischen und die römisch-katholischen Äußerungen zur Sache kommen äußerlich auch darin überein, daß die rechtfertigende Gnade nicht verdient werden kann. Das tridentinische Dekret Über die Rechtfertigung erklärt in c. 8 zum Verständnis der umsonst geschehenden Rechtfertigung (gratis iustificari) ausdrücklich, daß »nichts von dem, was der Rechtfertigung vorausgeht, weder Glaube noch Werke, die Gnade der Rechtfertigung verdient. >Denn wenn sie Gnade ist, dann ist sie nicht aus Werken, sonst wäre die Gnade (wie der Apostel sagt) eben nicht Gnade< (Röm 11,6)«./83/ Der Satz lehnt also die Auffassung ab, irgendein menschlicher Akt oder irgendein menschliches Werk vor der Rechtfertigung habe Verdienstcharakter. Wenn solche Akte oder Werke auch nicht völlig wertlos in Gottes Augen sind, so haben sie doch nicht den Wert irgendeines Verdienstes - mit den Scholastikern zu reden: nicht den Wert eines meritum de congruo (eines Verdienstes nur der Billigkeit oder Angemessenheit nach, ohne daß es einen echten Anspruch <158:> auf Belohnung hat) und schon gar nicht den Wert eines meritum de condigno (eines Verdienstes, das einen echten und vollen Anspruch auf Lohn begründet)./84/ Damit wäre auch die nominalistische Auffassung zurückgewiesen, daß es vor der Rechtfertigung so etwas wie ein Angemessenheitsverdienst des »facere quod in se est« gibt./85/

Die zitierte Passage des tridentinischen Rechtfertigungsdekretes legt die Vermutung nahe, die katholische Rechtfertigungsauffassung stimme mit der der Reformatoren in entscheidender Hinsicht überein. Ist doch allein der gnädige, »der barmherzige Gott, der ohne unser Verdienst abwäscht und heiligt: misericors Deus, qui gratuito abluit et sanctificat«, die Wirkursache der Rechtfertigung./86/ Also allein Gott: solus deus! Und Gott allein aus Gnade allein: solus deus sola gratia.

Adolf von Harnack hat denn auch das tridentinische Dekret über die Rechtfertigung als »in vieler Hinsicht vortrefflich gearbeitet« bezeichnet und in Zweifel gezogen, »ob die Reformation sich entwickelt hätte, wenn dieses Decret auf dem Lateranconcil am Anfang des Jahrhunderts erlassen worden und wirklich in Fleisch und Blut der Kirche übergegangen wäre«." Allerdings konnte das Dekret nach Harnack nur deshalb so reden, weil das Konzil selber bereits <159:> eine Folge der Reformation war - eine Folge der die Rechtfertigungslehre in das Zentrum von Theologie und Kirche rückenden Reformation, auf die es katholischerseits gerade in dieser zentralen Frage eine Antwort zu geben galt. Diese Antwort mußte freilich zuviel auf einmal berücksichtigen. Sie mußte einerseits die innerkatholischen Lehrgegensätze berücksichtigen und nach Möglichkeit ausgleichen. Sie mußte sodann die reformatorischen Vorwürfe, der Rechtfertigungsartikel sei entstellt worden, zurückweisen - und dazu schien der Gnadenbegriff gerade recht! Und sie mußte zugleich bestimmte reformatorische Spitzensätze unter Anathema stellen, was denn auch in den zum Dekret gehörenden Canones reichlich geschieht. Das alles zu leisten wäre mehr als das Ei des Kolumbus gewesen. Und so erweist sich denn das auf den ersten Blick »nicht unsympathische« Dokument bei näherem Zusehen als durchsetzt von Kompromissen, als in vielerlei Hinsicht zweideutig und als »vor lauter Klugheit unklar«./88/ In Wahrheit ist das Gnadenverständnis des Tridentinums von dem der reformatorischen Theologie tiefgreifend unterschieden.

b) Differenzierungen im Gnadenbegriff

Der Unterschied kommt vielleicht am deutlichsten in den merkwürdigen Differenzierungen im Gnadenbegriff zum Ausdruck, zu denen sich das römisch-katholische Verständnis des Rechtfertigungsvorgangs aus charakteristischen und vielsagenden Motiven veranlaßt weiß. Da wird - scholastischer Tradition gemäß - unterschieden zwischen einerseits der aller menschlichen Leistung zuvorkommenden (berufenden) Gnade (gratia praeveniens), der die aktive Zuwendung des Menschen zu seiner eigenen Rechtfertigung erweckenden und der ihm bei seiner freien Mitwirkung helfenden Gnade (gratia excitans et adiuvans)/89/ und andererseits der eigentlichen gerechtmachenden Gnade (gratia iustificationis)./90/ Die gerechtmachende Gnade soll jedoch durch jede Todsünde wieder verlorengehen - und das soll auch eintreten können, »wenn der Glaube selbst nicht verloren wird«." Von solchen Todsünden heißt es (man beachte die auch hier Platz greifende Differenzierung des Gnadenbegriffs!), daß man sich »von ihnen mit Hilfe der göttlichen Gnade fernhalten könne«, während man »um ihretwillen von der Gnade Christi getrennt werde«./92/ <160:> Diese Unterscheidung geht parallel zu der grundsätzlichen Unterscheidung zwischen einer der Rechtfertigung vorausgehenden, sie begleitenden und ihr folgenden Gnade einerseits und der die Rechtfertigung selbst bewirkenden »Rechtfertigungsgnade« andererseits. Gnade, Gnade und nochmals Gnade! Doch warum diese Gnadenvielfalt? Weshalb diese Aufspaltung der einen Gnade Gottes und also des gnädigen Gottes selbst in so viele und unterschiedlich wirkende Gnaden?

Um diese grundsätzlichen Unterscheidungen im Gnadenbegriff - die nach Hans Küng /93/ nicht die Einheit der Gnade in Frage stellen (wie z.B. Karl Barth gegen das Tridentinum kritisch eingewendet hatte), sondern »die ungeheure und vielfältige Wirkung des göttlichen Souveränititsaktes im Menschen« darstellen sollen - angemessen zu verstehen, muß man sich die tridentinische »Beschreibung« der »Rechtfertigung selbst« vor Augen halten: sie ist eine »Versetzung aus dem Stand, in dem der Mensch als Sohn des ersten Adam geboren wird, in den Stand der Gnade und >der Annahme zum Kind< Gottes durch den zweiten Adam, unsern Heiland Jesus Christus«.` Diese Rechtfertigung selbst »ist nicht nur Sündenvergebung, sondern auch Heiligung und Erneuerung des inneren Menschen durch die freiwillige Annahme der Gnade und der Gaben; dadurch wird der Mensch aus einem Ungerechten zu einem Gerechten«. /95/

Das Verständnis der Rechtfertigung als einer Versetzung in den Stand der Gnade (translatio in statumgratiae) läßt sich logisch jedoch nicht ohne weiteres mit der Behauptung einer willentlichen Aufnahme der Gnade, einer voluntaria susceptio gratiae vereinbaren, wenn denn -wie c. 8 bestimmt hatte - »nichts von dem, was der Rechtfertigung vorausgeht, ... die Gnade der Rechtfertigung verchent«." An genau dieser Stelle liegt denn auch der eigentliche Unterschied zwischen reformatorischer und römisch-katholischer Rechtfertigungslehre. Er tritt zutage, wenn man genauerhin fragt, wie sich der Mensch in seiner Rechtfertigung zu beteiligen vermag. Gar nicht - antworten die Reformatoren und bestreiten deshalb, daß der Mensch kraft seines freien Willens Gnade aufzunehmen vermag. Das bestreitet nun in gewisser Weise zwar auch das Tridentinum: nicht kraft seines freien Willens, sondern <161:> kraft der Gnade Gottes nimmt der Mensch die Gnade auf, dies aber mit Hilfe seines bzw. durch seinen freien Willen, von dem denn auch ausdrücklich behauptet wird, daß er durch die Sünde nicht völlig verloren und ausgelöscht sei./97/ Der Streit um das rechte Verständnis des sola gratia erweist sich damit letztlich als ein Streit um die (anselmische) Frage, von welchem theologischen Gewicht die Sünde ist.

Für die Reformatoren ist der Mensch ganz und gar Sünder, weil und insofern er im Blick auf das Verhältnis Mensch -Gott von sich aus nicht verhältnisfähig ist. Er hat als Sünder - will heißen: durch seine Existenz »ohne Gottesfurcht, ohne Vertrauen zu Gott und mit Begierde«" - sein Gottesverhältnis (sein Verhältnis zu Gott, nicht aber: Gottes Verhältnis zu ihm) zerstört und kann es von sich aus nicht wieder herstellen. Er hat in dieser Hinsicht keinen freien Willen. Die katholische Kirche lehrt hingegen, der Mensch sei so sehr Sünder, daß er zwar nur kraft der Gnade, aber durchaus mit seinem freien Willen die rechtfertigende Gnade aufzunehmen vermag und insofern durchaus an seiner Rechtfertigung willentlich und aktiv beteiligt zu sein vermag. Kraft der Gnade (nämlich der gratia praeveniens, excitans et adiuvans) nimmt der Mensch die Gnade (nämlich die gratia iustificationis) auf, aber er nimmt sie in einem freien Willensakt auf-. in einem nicht erst durch die Gnade freigesetzten, sondern schon immer freien Akt des durch die Sünde zwar beeinträchtigten, aber dennoch prinzipiell freien Willens.

Die scheinbare Tautologie »kraft der Gnade nimmt der Mensch die Gnade auf< ist keine spitzfindige Interpretation, sondern trifft den nervus rerum. Sie macht die merkwürdigen Unterscheidungen im Gnadenbegriff verständlich. Denn sie verliert ja ihren tautologischen Charakter, wenn man hinzufügt, daß diese willentliche Aufnahme der Gnade ein Akt des freien Willens des Menschen sei. Der nicht völlig erloschene freie Wille des alten Adam bildet sozusagen die Konstante zwischen altem und neuem Menschen. Der freie Wille des alten Menschen ist so etwas wie ein Anknüpfungspunkt für den neuen Menschen - im Blick auf den die Reformatoren keinen anderen Anknüpfungspunkt kennen als allein die Gnade.

Wir können die tridentinischen Unterscheidungen im Gnadenbegriff nun verständlich machen: sie sind anthropologisch bedingt, ja anthropologisch erzwungen. Das wird noch deutlicher, wenn man den Charakter der Rechtfertigung als einer Versetzung in den Stand der Gnade genauer analysiert. Denn diese Versetzung ist nur möglich, wenn dem Menschen Gottes Gnade so verinnerlicht wird, daß der Mensch die Gnade hat. Das Tridentinum nimmt auch mit dieser Lehre scholastische Tradition auf. Wir verdeutlichen uns den scholasti-<162:> schen Hintergrund durch eine Erinnerung an das thomanische Modell des Rechtfertigungsgeschehens.

c) Eingegossene Gnade

Thomas von Aquin /99/ hatte die Rechtfertigung beschrieben als eine Umänderung, eine transmutatio des Menschen weg vom Stand der Ungerechtigkeit (status iniustitiae) hin zum Stand der Gerechtigkeit (ad statum iustitiae). Dabei werden zwei Akte unterschieden, die zwar für Gott in instante, also in einem einzigen Augenblick geschehen, die sich für den Menschen aber als Nacheinander darstellen: nämlich die Eingießung der Gnade (infusio gratiae) und die Vergebung der Sünden (remissio peccatorum). Durch die Eingießung der Gnade wird die Veränderung des Menschen (transmutatio hominis) ausgelöst, in der der Mensch vom Stand der Sünde in den der Gerechtigkeit versetzt wird. Die Bewegung, deren Ziel die Vergebung der Sünden ist, hat ihrerseits den anthropologischen Doppelaspekt, daß sie des Menschen Nein zur Sünde und sein ja zu Gott darstellt./100/

Soll nun die transmutatio weg vom Stand der Ungerechtigkeit hin zum Stand der Gerechtigkeit zugleich eine Bewegung des Menschen sein, in der er sich gegen die Sünde wendet und zu Gott hinwendet, dann droht die Aufnahme der rechtfertigenden Gnade durch den Menschen als dessen Leistung mißverstanden (und zumindest als meritum de congruo in Rechnung gestellt) zu werden. Weil das - für Thomas - nicht in Betracht kommt, muß auch das willentliche Dabeisein des Menschen noch einmal unter das Vorzeichen der Gnade gebracht werden. Und deshalb unterscheidet man von der eigentlichen Rechtfertigungsgnade (gratia iustificationis), die den Menschen Gott angenehm macht und deshalb gratia gratum faciens heißt, jene göttlichen Gnadenakte, in denen Gott den Menschen auf die Rechtfertigung präpariert bzw. dem Menschen hilft, sich auf den Empfang der Rechtfertigungsgnade zu präparieren. Diese von der eigentlichen Rechtfertigungsgnade unterschiedenen Gnadenakte werden summarisch als umsonst gegebene Gnade (gratia gratis data) bezeichnet. Sie kommen der Rechtfertigungsgnade bzw. der angenehm machenden Gnade (gratia gratum faciens) nicht nur zuvor, sondern folgen ihr (etwa als gratia perseverantiae) auch nach. Auf diese Begriffsbildungen greift das tridentinische Rechtfertigungsdekret zurück.

Von der umsonst gegebenen Gnade (gratia gratis data), die das Tridentinum konkret in der Gestalt der aller menschlichen Leistung zuvorkommen-<163:>den, die aktive Zuwendung des Menschen zu seiner eigenen Rechtfertigung erweckenden und der ihm bei seiner freien Mitwirkung helfenden Gnade (gratia praeveniens, excitans et adiuvans /101/ - auch auxilium bzw. divinae gratiae adiumentim /102/ 1112) zur Sprache bringt, gilt, daß sie sich auf einzelne Akte Gottes, in denen sie sozusagen ad hoc gegeben wird, beschränkt, um eben nur einen Beistand (ein auxilium) zu leisten, damit der menschliche freie Wille seine Beeinträchtigung durch die Sünde verliert. Die eigentliche Rechtfertigungsgnade hingegen wird dem Menschen eingegossen, damit sie ihm als eingegossener Zustand, als habitus infusus einwohne. Mit der Rechtfertigungsgnade, die als solche die vor Gott angenehm machende Gnade ist, werden dem Menschen dann zugleich die sogenannten theologischen Tugenden Glaube, Liebe und Hoffnung eingesessen./103/ ja, die Gerechtigkeit Gottes kann auch selber als von Gott uns eingegossene Gerechtigkeit (iustitia a Deo nobis infusa) und als uns einwohnende Gerechtigkeit (iustitia nobis inhaerens) begriffen werden./104/

Die Rede von der dem Menschen eingegossenen und ihm als habitus infusus einwohnenden Gnade bereitet jedoch größte theologische Schwierigkeiten. Denn als eingegossene wird die Gnade im Modell des Gehabtwerdens begriffen. Die den Sünder rechtfertigende Gnade wird vom Menschen gehabt. Doch gehabte, besessene Gnade hört auf, Gnade zu sein. Es hilft dann wenig, wenn man im Anschluß an Bonaventura ein solches Haben (der Gnade und damit doch eben des gnädigen Gottes) dahin interpretiert, daß es eigentlich ein VonGott-gehabt- Werden sei: »Gott zu haben ist ein von Gott gehabt werden«./105/ So wie der Mensch, recht verstanden, sich selbst nicht haben, nicht besitzen kann, so kann er auch Gott und seine Gnade nicht haben, nicht besitzen. Die theologische Unmöglichkeit eines solchen Denkmodells, dem gemäß Gnade gehabt werden kann, zeigt sich besonders kraß darin, daß eine derart vom Menschen gehabte Gnade auch wieder »verloren werden« kann - und das selbst dann, wenn der Glaube nicht »verlorengeht«! Das tridentinische Rechtfertigungsdekret dekretiert: »Es ist zu behaupten, daß nicht nur durch den Unglauben, durch den der Glaube selbst verlorengeht, sondern auch durch jed-<164:> wede Todsünde, selbst dann wenn der Glaube nicht verlorengeht, die empfangene Rechtfertigungsgnade verlorengeht«./106/ Wie soll man das verstehen?

Man kann zwar für die Rede von der Eingießung der Gnade auf Röm 5,5 verweisen, wo von der Liebe Gottes gesagt wird, daß sie in unsere Herzen ausgegossen ist durch den Heiligen Geist. Entsprechend kann Paulus ja auch von dem uns »gegebenen« Geist reden (2Kor 5,5 u.ö.), so daß wir ihn »empfangen« (Röm 8,15) und »haben« (Röm 8,23; vgl. 1Kor 2,16). Und so gilt auch nach Joh 1,16, daß wir »Gnade uni Gnade empfangen haben«. Der Heilige Geist ist dementsprechend »in uns« (vgl. Röm 8,9-11). Die Rede vom In-Sein der Gnade Gottes im Menschen ist, biblisch geurteilt, folglich nicht prinzipiell falsch. Aber daß der Geist, die Liebe, die Gnade Gottes in uns ist, das bedeutet im Zusammenhang biblischen Sprachgebrauchs bezeichnenderweise zugleich, daß wir »im Geist«, also außer uns sind, leben und wandeln. Der Geist, die Liebe Gottes und seine Gnade sind folglich ganz und gar nicht als ein uns eingegossener und einwohnender Zustand (habitus infusus und inhaerens) zu begreifen, sondern vielmehr als Kräfte und Ereignisse, die in uns so wirken, daß sie uns aus uns heraussetzen. Im Sinne eines habitus kann die Rechtfertigungsgnade vom Menschen gerade nicht gehabt werden. Denn sie wäre dann nicht mehr der gnädige Gott selbst.

Entsprechend verwirrend ist die (zwar im Tridentinum nicht zitierte) katholische Unterscheidung von ungeschaffener und geschaffener Gnade, von gratia increata und creata. Kann Gnade jemals etwas anderes als ein göttliches Verhalten, etwas anderes also als der gnädige Gott selbst sein? Nun wird freilich von katholischen Theologen gerade dies behauptet, daß die rechtfertigende Gnade »schlechthin u. als streng übernatürliche primär der sich mit seinem eigenen Wesen mitteilende Gott selbst ist«,"" so daß es sich eigentlich doch wohl nur um »ungeschaffene Gnade«, gratia increata, handeln kann. Und es wird ausdrücklich hinzugefügt: »Von da aus ist eine ding- u. sachhafte Auffassung der G[nade], die die G[nade] in die autonome Verfügung des Menschen gäbe, schon a limine ausgeschlossen. Die Lehre des Tridentinums von der >inhaerierenden< G[nade] (D 800 821 [= DH 1530f, 1561]) ist keine Aussage, die dies bestreiten wollte oder die auch nur vorgetragen würde im Blick auf das Problem der Unterscheidung von geschaffener u. ungeschaffener ... G[nade]«."" Auch »Begriffe wie >inhärierend<, >akzidentell<, usw.« sollen »in diesem Zusammenhang durchaus unabhängig von der Frage der Unterschei-<165:>dung von >geschaffenen u. >ungeschaffenen G[nadel verstanden werden«./109/ Um so merkwürdiger berührt dann allerdings die Tatsache, daß »keine Einhelligkeit in der kath. Theologie« darüber besteht, ob »man die geschaffene G[nade] als ... effizient von Gott bewirkte Voraussetzung u. Folge der ungeschaffenen, in quasiformaler Ursächlichkeit mitgeteilten G[nade] auffaßt ... oder ... als eo ipso mitgesetztes Moment an dieser ungeschaffenen G[nade] ... oder ob man (wie meist seit dein Tridentinum, aber wohl ungenügend u. gegen die letzten Tendenzen bei Thomas ... ) die >ungeschaffene G[nade]< mehr oder weniger als bloße Folge der geschaffenen G[nade] betrachtet«)/110/

Die angeführten Sätze machen zumindest deutlich, wie verwirrend die Unterscheidung von »ungeschaffener Gnade« und »geschaffener Gnade« ist. Sie wirft mehr Probleme auf, als sie zu lösen vermag. Doch die Unterscheidung von ungeschaffener und geschaffener Gnade ist nicht nur verwirrend. Sie ist ein kategorialer Fehlgriff, der sich am Wesen der Gnade vergreift. Man mag über die übrigen katholischen Differenzierungen im Gnadenbegriff denken, wie man will, die Unterscheidung von ungeschaffener und geschaffener Gnade ist inakzeptabel. Schon die Richtung auf diese Unterscheidung und die damit in den Blick kommende Möglichkeit einer geschaffenen Gnade hätte niemals eingeschlagen werden dürfen. Sie widerspricht dem Begriff des gnädigen Gottes, zu dem Gnade als Selbstbestimmung des eigenen Seins gehört, so daß sie nicht auch noch von ihm als seine Kreatur (gratia creata) unterschieden werden kann. Nur in der Person Jesu Christi sind Schöpfer <166:> und Kreatur, sind creator und creatura eins und doch unterscheidbar. Dieselbe Differenz auch von der dein Sünder zugute kommenden Gnade auszusagen, ist genauso problematisch wie die Behauptung, »daß es Heilsakte des Nichtgerechtfertigten gibt«,` ja daß der Mensch »trotz der Erbsünde .. ._frei« ist; »er stimmt also der zuvorkommenden G[nade] frei zu oder lehnt sie frei ab«. /112/ 2 Daß dieses gegenseitige »>Miteinanderwirken< (cooperari) ... dennoch keinen die Heilswirkung aufteilenden >Synergismus«< bedeuten soll, weil »auch die freie Zustimmung selbst ... G[nade] Gottes« sein soll,/113/ bleibt schwer verständlich, weist aber auf den eigentlichen Differenzpunkt zwischen evangelischer und katholischer Lehre hin. Nach katholischer Auffassung ist die Gnade Gottes letztlich als eine Art Ersatzleistung verstanden: sie leistet alles das, was der Mensch als Sünder nicht mehr oder noch nicht zu leisten vermag. Sie bereitet vor, sie erweckt und stachelt an, sie verwandelt, sie folgt und befestigt usw. - kurz: sie leistet viel, ja sie leistet fast alles./114/ Aber als Leistung verstanden ist sie im Grunde als eine Konkurrentin oder Parallelstruktur zu dem zu bestimmten frommen Leistungen geforderten Menschen in Ansatz gebracht. Damit wird aber das für das biblische Gnadenverständnis entscheidende Moment der göttlichen Erbauung -es jammerte ihn! - verstellt. Erbarmen ist alles andere als eine Leistung. Erbarmen ist auch keine Ersatzleistung. Und so wirft gerade eine Gnadenlehre, die Gottes Gnade als so überaus leistungsfähig begreift, wie es das tridentinische Rechtfertigungsdekret zweifellos tat, die Frage auf, ob hier denn überhaupt von dem die Rede ist, was in Wahrheit Gnade genannt zu werden verdient.

Wir fassen unsere Bedenken gegen das katholische Gnadenverständnis zusammen, wenn wir fragen: ob

a) die Gnade Gottes ihrerseits im Modell der Leistung begriffen werden darf, ob
b) der Mensch auch ohne seine Rechtfertigung »Heilsame« erfahren oder gar selber setzen kann; und ob
c) der Begriff der Freiheit anthropologisch nicht vorschnell und verfrüht eingeführt wird, wenn dem Menschen eine freie willentliche Annahme der Gnade (voluntaria susceptio gratiae) möglich sein soll. Nach biblischer Einsicht gilt, daß Freiheit anthropologisch nur durch Befreiung einführbar ist. Ein freier Herr über alle Dinge, aber auch schon ein der Gnade Gottes gegenüber frei sich verhaltender Mensch wird der von der Sünde geknechtete Mensch durch den befreienden Akt der Gnade. Freiheit ist anthropologisch durch Befreiung konstituiert. <167:> Erst wenn das begriffen ist, dann und nur dann wird Freiheit als das reiche Phänomen und der strahlende Begriff zur Geltung gebracht, von dem das Neue Testament redet, wenn es auf unsere Rechtfertigung zu sprechen kommt.
Von diesem die Freiheit des Menschen ganz und gar vorbehaltlos auf die göttliche Befreiung zurückführenden Verständnis Gottes und des Menschen her begreifen die Reformatoren Gnade streng als ein göttliches Verhalten, das allerdings - so jedenfalls Luther - den Menschen nicht nur gerecht spricht, sondern gerecht macht. Gottes Gnade rechtfertigt den Menschen, indem sie ihn als externe Gnade, als gratia externa zwar im Zentrum seiner Existenz trifft, ihm also näher kommt, als er sich selber nahe zu sein vermag; dies aber so, daß sie den in seinem Innersten getroffenen Menschen ans sich heraussetzt. Sie bleibt ihm keineswegs nur »äußerlich«, wie das Tridentinum den Reformatoren vorwirft; 115 sondern sie wirkt auch - wie gleich noch auszuführen sein wird - so in den Menschen hinein, daß sie ihn selber von innen nach außen kehrt und ihn so nicht weniger intensiv in seinem Sein bestimmt, als die angeblich eingegossene und einwohnende Gnade das angeblich tut. Die rechtfertigende Gnade ist - wie es die altprotestantische Orthodoxie treffend ausdrückt wesentlich die das Heil zuwendende Gnade (gratia applicatrix) und eben nicht zugewendete Gnade (gratia applicata). Denn Gnade ist und bleibt ein Gottesbegriff, ein Begriff des göttlichen Verhaltens, ein Relationsbegriff. Wird aber die Gnade als ein sich dem Menschen applizierendes Verhalten Gottes verstanden, dann wird verständlich, daß der Mensch beides zugleich ist: simul iustus (sofern sich Gott auf ihn bezieht und er sich auf Gott beziehen läßt) er peccator (sofern er sich rücksichtslos auf sich selbst bezieht). Zugespitzt könnte man deshalb den Gegensatz im Gnadenverständnis dahin formulieren, daß die katholische Lehre die Gnade als eine nun ihrerseits im Menschen Leistungen vollbringende Kraft - die Gnade leistet alles! - würdigt, während das reformatorische sola gratia die bleibende Angewiesenheit des Sünders auf den gnädigen Gott und die ungeschuldete, eben deshalb aber von Herzen kommende Zuwendung Gottes zum Sünder aussagt. Gnade ist die wirksame Freude Gottes am geliebten Menschen, am häßlichen Sünder seiner Sünde zum Trotz. Und wirksam ist die als Freude Gottes am Menschen begriffene Gnade darin, daß sie den häßlichen Sünder schön macht. Gnade ist das Überströmen der Liebe Gottes in das Übermaß menschlicher Schuld. Für den Menschen ist diese Freude Gottes nicht eine alles leistende Kraft, sondern befreiende Freiheit, aus der Kraft geschöpft wird. <168:>

d) Gnade als eine im Menschen tätige Kraft?

Der konfessionelle Gegensatz im Gnadenverständnis weist sich am schärfsten aus in der katholischen Lehre, daß die Gnade im Menschen als Liebe tätig ist und daß der Sünder erst durch die Liebestätigkeit der Gnade gerechtfertigt wird. Das dürfte jedenfalls der Sinn des Canons 11 des tridentinischen Rechtfertigungsdekretes sein, dein zufolge anathematisiert wird, wer da sagt, daß »die Menschen entweder allein durch die Anrechnung der Gerechtigkeit Christi oder allein durch die Vergebung der Sünden gerechtfertigt werden, unter Ausschluß der Gnade und Liebe, die in ihre Herzen durch den heiligen Geist ausgegossen wird ... und ihnen einwohnt, oder sogar, die Gnade, durch die wir gerechtfertigt werden, sei nur die Gunst Gottes«.' /116/ Das und in der Wendung »Gnade und Liebe« wurde von den Thomisten gegen die Scotisten durchgesetzt, die Gnade und Liebe sogar durch ein oder (seu) identifizieren wollten. Aber der grammatisch überraschende Singular der Prädikate ausgegossen (diffundatur) und einwohnt (inhaereat) zeigt, daß Gnade und Liebe doch im Grunde als ein einziger habitus infusus verstanden werden. Gnade ist hier nicht Gnade ohne die den Menschen zum Handeln bringende Liebe. Ist es nicht doch ein »verchristlichtes Leistungsprinzip«, 117 was da als Gnade in Betracht kommt?

Diese Frage nötigt, die Exklusivpartikel allein aus Gnade durch die Exklusivpartikel allein durch Glauben auszulegen. Um zu verstehen, inwiefern der Mensch allein durch Glauben gerecht wird, muß jedoch verstanden werden, weshalb er allein durch Gottes Wort Gottes Gerechtigkeit erlangt. Denn der Glaube kommt aus dem Hören des Wortes (Röm 10,17).

Man könnte, was man gegen das tridentinische Gnadenverständnis einzuwenden hat, auch auf die etwas saloppe Formel bringen, daß das Dekret vor lauter Gnade die Exklusivität des Glaubens nicht sieht. Darauf wird zurückzukommen sein. Es sei jedoch bereits hier angemerkt, daß das tridentinische Gnadenverständnis auch innerhalb der evangelischen Christenheit nicht gerade selten anzutreffen ist, wenn hier auch in sehr viel weniger reflektierter Gestalt. Im Blick auf das Selbstverständnis des neuzeitlichen Menschen erweist sich das Tridentinum ja auch als ein ausgesprochen fortschrittlicher Text. Die Aufklärung hat sich in dieser Hinsicht als indirekter Kombattant des Tridentinums erwiesen. Und der große Immanuel Kant hat mit seinem Insistieren auf der mit der »guten Gesinnung« gleichursprünglichen sittlichen Tat <169:> das Seine dazu beigetragen, dem tridentinischen Rechtfertigungsdekret unbemerkt auch in der protestantischen Seele zum Einzug zu verhelfen./118/ Es ist die sich in der Neuzeit immer stärker durchsetzende Auffassung, daß der Mensch wesentlich Täter ist, die der biblischen Behauptung, der Mensch sei Gott gegenüber ein Nichthandelnder, kaum noch einen Sinn abzugewinnen vermag. »Tut um Gottes willen etwas Tapferes« - Zwinglis an ihrem Ort zu ihrer Zeit ja durchaus gebotene Parole ist längst zur Grundeinstellung des sich als evangelisch (miß)verstehenden Menschen geworden. Und insofern möge jeder evangelische Christ prüfen, ob die dem Tridentinum geltende Kritik nicht zugleich auch ihm selber gilt. »Als Prüfstein in der Frage, wo ein jeder in dieser Sache steht, ist >das Tridentinum< ... hochgeeignet. Es gibt auch protestantische Rechtfertigungslehren, ... die ... nur allzu tridentinisch sind«./119/

2007-04-05

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