Das Leben





2004/06/19 (09:01) from 217.95.20.56' of 217.95.20.56' Article Number : 47
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Harbermas
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Meister der Vielsilbigkeit
¸¸Die normative Autorität Amerikas liegt in Trümmern": Jürgen Habermas wird 75 und schilt die USA mit der immerfrischen Kraft der Vernunft

Jürgen Habermas sagt, was er denkt. Er hat es immer getan, und wenn sein jüngstes Buch - eine Sammlung von Essays und Gesprächen über die Auswirkungen des 11. September samt einer philosophischen Coda über das ¸¸Kantische Projekt" - besonders scharf wirkt, so liegt es nicht an ihm, sondern an den Verhältnissen, von denen er spricht.


Seine politischen Anschauungen, so sagt Habermas von sich, zehrten ¸¸seit dem sechzehnten Lebensjahr, dank einer vernünftigen reeducation-policy der Besatzung, von den amerikanischen Idealen des späten 18. Jahrhunderts". Nicht zuletzt dank der Vereinigten Staaten, ihres pluralistischen Liberalismus und ihrer Philosophie des Pragmatismus hat Habermas sich zu dem Denker gebildet, der sich jetzt enttäuscht und entgeistert gegen die gegenwärtige amerikanische Regierung und ihre Standartenträger wendet.


¸¸Hegemonialer Unilateralismus" lautet seine Anklage. (Der gespaltene Westen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004, 193 Seiten, 10 Euro.) Und die Sätze, mit denen er sie begründet, könnten pointierter nicht sein: ¸¸Machen wir uns nichts vor: Die normative Autorität Amerikas liegt in Trümmern." Die ¸¸regierungsoffizielle Stimmungsmache" und den seit dem 11. September herrschenden ¸¸patriotischen Konformismus hatte ich nicht für möglich gehalten, nicht im liberalen Amerika".


Moral der Grammatik


Habermas rügt die ¸¸rücksichtslose Missachtung des Völkerrechts, die sich diese Regierung zu Schulden kommen lässt". Dass sie den Internationalen Strafgerichtshof nicht anerkenne, sei ¸¸kein Kavaliersdelikt mehr". Fazit: Unter Führung der Vereinigten Staaten präsentiere sich der Westen ¸¸in normativ entkernter Gestalt, solange er mit Menschenrechten nicht viel mehr als den Export von Marktfreiheiten im Sinn hat und im eigenen Hause der neokonservativen Arbeitsteilung zwischen religiösem Fundamentalismus und entleerender Säkularisierung freien Lauf lässt".


Wie seine gelehrten amerikanischen Freunde, der Rechtsphilosoph Ronald Dworkin und der Philosoph Richard Rorty, sieht Habermas sich jetzt genötigt, im Namen des demokratischen Liberalismus made in the US gegen die amerikanische Regierung und ihre Steigbügelhalter in Politik und Wirtschaft aufzustehen. Wenn die Bitternis, die damit einhergeht, ihm seinen 75. Geburtstag nicht vergällt, so könnte es auch daran liegen, dass die Theorie des kommunikativen Handelns für ihn nicht widerlegt ist.


¸¸Jeder kompetente Sprecher", hat er in einem Gespräch gesagt, das in den Blättern für deutsche und internationale Politik abgedruckt wurde, ¸¸hat gelernt, wie er das System der Personalpronomina verwenden muss; zugleich hat er damit die Kompetenz erworben, im Gespräch die Perspektiven der ersten und der zweiten Person auszutauschen." Jedermann, so findet Habermas, sei schon aus grammatischen Gründen in der Lage, sich in die Schuhe des anderen zu versetzen. Darin gründe ¸¸die kooperative Erzeugung eines gemeinsamen Deutungshorizontes". Und wo dieser vorhanden ist, das liegt auf der Hand, wird man sich irgendwann auch verständigen können. Der Theorie des kommunikativen Handelns zufolge dürfte die Politik der Bush-Regierung eigentlich nicht so sein, wie sie ist: Sie ist unvernünftig und selbstbezüglich, und als Habermas-Leser muss man sich fragen, ob man es bei Bush, Cheney und Rumsfeld mit kompetenten Sprechern zu tun hat.


Jürgen Habermas hat einleuchtende Sätze zur analytischen Beschreibung der Gesellschaft gefunden, die das friedliche Zusammenleben der Menschen als etwas Folgerichtiges aussehen lassen. Und wenn sein Entsetzen über die verderblichen Zustände auf dem Globus ihn nicht um seinen elan vital bringt, dann mag es auch daran liegen, dass der Umstand, die Welt konzeptionell im Griff zu haben, eine gewisse Seelenstärke verleiht. Das Sittliche, so kann man vereinfachend sagen, ist für Habermas in vielen Fragen zwangsläufig vernünftig. Wo die Weltläufe sich dieser Entwicklung versagen, ist er nicht verzweifelt, sondern entrüstet. Unter Aufwendung vieler vielsilbiger Substantive echauffiert er sich: theoretisch präzise, politisch schneidend.


Die Macht der Praktiken


Wenn Jürgen Habermas es hingegen mit einem politischen Ziel zu tun hat, das er nicht in Form einer analytischen Beschreibung darstellen kann, dann überkommt auch ihn das Unbehagen, das sich daraus ergibt, nicht zu wissen, auf welche Schrecklichkeiten die Menschheit sich in der Zukunft einlassen wird. Den ¸¸Legitimationsvorsprung demokratischer Länder" in einem Gremium wie dem UN-Sicherheitsrat zum Beispiel: ihn kann er nicht als zwingend darstellen, und er ¸¸lässt sich kaum formalisieren".


Hier muss also die politische Wirklichkeit selbst für sich sorgen: ¸¸Gewohnheiten und Praktiken", sagt Habermas, könnten dazu führen, dass die Vorzüge der Demokratie sich herumsprechen. Und in diesem Zusammenhang plädiert er für eine Reform des Vetorechts im UN-Sicherheitsrat, dessen ¸¸beschämende Selektivität" bei der Auswahl der geschundenen Länder, in denen eine militärische Intervention der Uno beschlossen wird, ihm ohnedies zuwider ist. Da in der jüngsten Zeit vor allem die Vereinigten Staaten es sind, die sinnvolle Weltvorhaben im Sicherheitsrat blockieren, steht auch hinter diesem Wunsch nach einer Reform des Vetorechts seine Kritik an den USA.


Habermas" Ansichten darüber, wann wo interveniert werden soll, erwachsen aus seiner Version von Kants Ideen über das Völkerrecht und ein mögliches ¸¸Weltbürgerrecht". Kant war in seiner Schrift ¸¸Zum ewigen Frieden" bei der Empfehlung eines Völkerbundes stehengeblieben. Die Gedanken über die Rechte der einzelnen Bürger, die er dabei ausgeblendet hatte, greift Habermas auf. Es wäre konsequent, schreibt er, ¸¸die Weltorganisation schon heute als eine Gemeinschaft von ,Staaten und Bürgern" zu deklarieren". Das wäre der Weg zu einer ¸¸Weltinnenpolitik", wie sie sich schon in den Kriegsverbrecherprozessen nach dem Zweiten Weltkrieg abgezeichnet habe: In Nürnberg und Tokio wurden einzelne Beamte und Funktionäre für Straftatbestände verurteilt, die später ins Völkerrecht aufgenommen wurden: ¸¸Das war der Anfang vom Ende des Völkerrechts als eines Rechts der Staaten" und die ¸¸moralische Weichenstellung für den langen Prozess der Gewöhnung an den Gedanken, einen Internationalen Strafgerichtshof einzurichten".


Wie notwendig diese Entwicklung ist, zeigt sich für Habermas nicht nur daran, dass die Völkergemeinschaft moralisch verpflichtet sei, bedrängten Menschengruppen zu Hilfe zu eilen, auch wenn sie dabei die Souveränität eines Staates verletze. Es zeige sich auch am Phänomen des internationalen Terrorismus. Der ¸¸Krieg gegen den Terror" muss an den amorphen Strukturen der terroristischen Gruppen scheitern. Die Weltgemeinschaft, rät Habermas im Sinn der Weltinnenpolitik, solle stattdessen lieber gezielte Polizeiaktionen gegen Terroristen durchführen.


Aber die Neokonservativen in Washington halten sich mit völkerrechtlichen oder moralischen Fragen nicht auf. Und über die Gründe der Vernunft gehen sie in ihrer Selbstherrlichkeit hinweg. Der Irak-Krieg war illegal, und für Habermas kann er auch nicht rückwirkend damit gerechtfertigt werden, dass Saddam Hussein ein Tyrann gewesen ist. Die USA ¸¸setzen nämlich der Moral des Völkerrechts weder Realismus noch Freiheitspathos, sondern eine revolutionäre Sicht entgegen", die darin beruht, sich um ¸¸zivilisierende Fesseln", welche die Staatengemeinschaft sich angelegt hat, nicht zu scheren. Das ist der ¸¸hegemoniale Unilateralismus", den Habermas beklagt.


Ist das Kantische Projekt damit vorerst erledigt, ad acta gelegt von einem sendungsbewussten Präsidenten, einem Scharfmacher von Vizepräsidenten, einem großsprecherischen Verteidigungsminister und ihrer Kamarilla?


Habermas sagt: Nein. Die Idee der Weltbürgergesellschaft und ihrer Weltinnenpolitik würden auch diese Leute nicht kleinkriegen. Ein einfacher Satz ist es, in dem er das begründet. Es ist kein philosophischer Satz, nur eine lakonische Feststellung, sie zeugt von der Nüchternheit dieses Philosophen, der sich so vehement zur aufgeklärten Vernunft bekennt und sich Anflüge von Resignation verbietet: ¸¸Die empirischen Einwände gegen die Durchführbarkeit der amerikanischen Vision laufen darauf hinaus, dass die Weltgesellschaft zu komplex geworden ist, um noch von einem Zentrum aus mit Mitteln einer auf militärische Gewalt gestützten Politik gesteuert zu werden." Außerdem wartet Habermas, wie viele andere, auf die Wahlen in den USA und auf einen Regierungswechsel. Denn noch sind die Vereinigten Staaten ja eine Demokratie. FRANZISKA AUGSTEIN


Quelle: Süddeutsche Zeitung
Nr.138, Freitag, den 18. Juni 2004 , Seite 15







Wähler sind nicht nur Kunden
Die nationalstaatliche Politik muss lernen, nicht wie ein Blinder in den globalen Räumen herumzutapsen. Ein Interview mit Jürgen Habermas

Jürgen Habermas, der morgen 75 wird, auf seine Tätigkeit als Zeitdiagnostiker zu reduzieren, wäre eine arge Verfälschung. Das Zentrum seines Werks sind und bleiben Philosophie, Gesellschafts- und Kommunikationstheorie. Doch allein die diese Tage bewegenden politischen Entscheidungen in Europa, in Deutschland fordern einmal mehr sein zeitanalytisches Engagement heraus.


SZ: Nach der Wahl zum Europaparlament liegt eine politische Depression über Europa. Die Mehrheit der Wähler und erst recht der Nicht-Wähler hat ihr europäisches Wahlrecht missbraucht, um mit ihren nationalen Regierungen abzurechnen - und zu allem Überfluss jede Menge Euroskeptiker nach Straßburg zu schicken. Ist Europa dabei, seine Idee einer transnationalen demokratischen Gestaltung ad absurdum zu führen?


Jürgen Habermas: Die Wähler haben sich wohl eher von den politischen Parteien, die ungerührt ihre nationalen Machtspielchen fortführten, missbrauchen lassen. Auf europäischer Ebene sind die Parteien - hinausgehend über die Fraktionsbildung im Straßburger Parlament - noch keine Bündnisse eingegangen. Die politischen Entscheidungen, die in Brüssel und am Europäischen Gerichtshof in Luxemburg fallen, greifen zwar tiefer in unseren Alltag ein als die nationalen Entscheidungsprozesse. Aber sie bleiben unpolitisch, gewissermaßen in undurchschauten Bürokratien versteckt.


¸¸Europa" ist als solches ein Reizthema, aber die Probleme, die in den europäischen Institutionen abgearbeitet werden, werden nicht zu Reizthemen, an denen sich über nationale Grenzen hinweg Meinungen kristallisieren würden. Daran tragen auch die Medien, in erster Linie die Presse Schuld. Die nationalen Öffentlichkeiten müssten sich füreinander öffnen und die Diskussionen, die in den jeweils anderen Nationen geführt werden, zu Hause präsent machen. Stattdessen kooperiert die FAZ mit der Herald Tribune und die Süddeutsche mit der New York Times. Die Kommunikation der Wirtschaftseliten, die doch lieber die Financial Times auf englisch lesen sollten, ist für unsere kleinkarierten Redaktionen offenbar wichtiger als der transnationale Zusammenhang der europäischen Bürger.


SZ: Das könnte ja gute Gründe haben: Ist am Ende doch die Durchsetzung des Gemeinsamen Marktes der Hauptantrieb der europäischen Integration - wird also Europas Identität doch von dem für die Globalisierung gestählten Wirtschaftsliberalismus geprägt und nicht von einem politischen Kosmopolitismus?


Habermas: Bis zur Vollendung der wirtschaftlichen Integration der 15 Mitgliedstaaten hatten sich die mittelfristigen Ziele der Euroföderalisten von Adenauer bis Delors mit denen der Wirtschaftsliberalen gedeckt. Seitdem ist der Konflikt ausgebrochen und schmort unter der Decke des Gegensatzes zwischen Integrationisten, die eine weitere ¸¸Vertiefung" wollen, und Intergouvernementalisten, die ¸¸Erweiterung" statt Vertiefung wollen - und dabei in Begriffen des nationalen Standortwettbewerbs denken. Aus dem liberalisierten Marktverkehr einer privatrechtlich geordneten Wirtschaftsgemeinschaft allein wird nie eine politische Identität hervorgehen.


Erst wenn sich die Bürger verschiedener europäischer Nationen auch gegenseitig als Mitglieder desselben politischen Gemeinwesens anerkennen, wächst die Bereitschaft, füreinander gewisse, in kleiner Münze erhobene Opfer in Kauf zu nehmen. Ein solcher Mentalitätswandel wird nicht durch neoliberale Rhetorik und verschärfte Konkurrenz gefördert, sondern durch Vertrauen in die Politik. Und politische Gestaltungskraft gewinnt erst eine Europäische Union, die nicht nur das Privatrecht vereinheitlicht und die Zusammenarbeit der Polizei fördert, sondern auf globaler Ebene als ein handlungsfähiger Akteur mit eigenen Vorstellungen auftritt. Eine europäische Identität bildet sich in dem Maße, wie Europa lernt, nach außen mit einer Stimme zu sprechen.


SZ: Gegen Fukuyamas These muss man heute fragen: Bleibt die Demokratie nicht auf absehbare Zeit eine Veranstaltung des Westens? Mehr noch, wird das Modell der wenn nicht diktatorischen, so doch autokratischen Herrschaft à la China, Russland, Singapur, Iran, vermutlich auch Irak nicht sogar das Modell, das der Westen jenseits seiner Grenzen normativ bevorzugt? Einfach deshalb, weil es dort nicht nur Stabilität, sondern auch mehr soziale Gerechtigkeit verspricht - mehr jedenfalls als anomische Demokratien unter den anarchischen Bedingungen der Globalisierung?


Habermas: Das ist für die nähere Zukunft ein realistisches Szenario. Das Deutsche Reich hat ja die Effizienz seines ¸¸wilhelminischen" Modells in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts vorexerziert. In ganz anderer Weise bot Korea unter Präsident Park das ökonomisch erfolgreiche Modell einer Entwicklungsdiktatur. Eines Tages machen sich die politischen und kulturellen Kosten einer autoritären Modernisierung dann doch bemerkbar. Als intelligente Lösung bietet sich dafür die Demokratisierung an. In Korea war es schon in den 90er Jahren so weit. Wie lange hat es dagegen gedauert, bis wir uns politisch zum Westen bekehrt haben?


Im übrigen machen Sie selbst die interessante Einschränkung ¸¸unter den anarchischen Bedingungen der Globalisierung": Sie legen Ihrem Szenario stillschweigend die Neue Weltordnung des hegemonialen Liberalismus zugrunde. Danach stehen formal unabhängige Staaten unter der Protektion einer friedenssichernden Supermacht; sie sind in den Kontext einer mehr oder weniger entstaatlichten und liberalisierten Weltgesellschaft eingebettet und müssen nur den wirtschaftlichen Imperativen des Weltmarktes gehorchen. Dabei zählt, wie Sie sagen, die darwinistische Anpassungsfähigkeit, nicht die politische Verfassung im Inneren. Ein ganz anderes Bild entsteht aber mit dem Szenario einer politisch verfassten Weltbürgergesellschaft, das der Charta der Vereinten Nationen eingeschrieben ist.


SZ: Zurück zu Deutschland und dem Absturz der SPD: Geht über den objektiven Widersprüchen der Sozialreformen die Potenz der Sozialdemokratie unaufhaltsam zugrunde?


Habermas: Die SPD hat natürlich immer die Interessen ihrer Wähler berücksichtigt. Aber stärker als jede andere Partei hat sie ihre Wähler auch durch das Angebot normativer Zielsetzungen an sich gebunden. Heute scheitert sie nicht an mangelnder Interessenberücksichtigung, nicht an den strukturkonservativen Widerständen, sondern an fehlender Orientierungskraft. Die im nationalen Rahmen nötigen und möglichen Reformen müssen in eine über den Nationalstaat hinausgehende Perspektive eingebettet werden. Wähler sind eben nicht nur Kunden.


Der ökonomistische Blick auf den Wähler ist eine déformation professionelle der Wahlforscher. Bushs Irakpolitik hat mehr Leute auf Europas Straßen gebracht als je zuvor. Die Bürger meckern über die Praxisgebühr, weil die Parteien über nichts anderes als Beitragssätze reden. Das ist gewiss wichtig, für sehr viele sogar existentiell wichtig. Aber die schwer durchschaubare Komplexität einer Gesundheitsreform, einer Arbeitsmarktreform, dieses ganzen Wustes rollender Reformen möchte man mit einer Politik verknüpft sehen, die vor den internationalen und weltwirtschaftlichen Imperativen nicht einfach abdankt.


Die demographischen und die hausgemachten Probleme sind mit weiterreichenden Entwicklungen verknüpft, auf die die nationalstaatliche Politik keinen Einfluss hat - deshalb muss sie doch nicht wie ein Blinder in den globalen Räumen herumtapsen. Die SPD sollte sich auf ihre programmatischen Tugenden besinnen, auch politische Ziele setzen, die über den Handlungsspielraum des einzelnen Nationalstaates hinaus gehen und auf ein handlungsfähig gewordenes Europa vorausweisen. Das eigentliche Problem ist die Selbstabdankung der Politik vor Sachzwängen, die sie selber erst freigesetzt hat.


SZ: Die Politik dankt ab, die religiöse Frage lebt auf. Nicht erst über die Debatte zum Beitritt der Türkei zur EU wurde ein Grundsatzstreit, den man historisch überholt wähnte, wieder akut: Schließt das normative Fundament Europas christliche Werte ein, oder hat sich die Säkularisierung definitiv von seinen religiösen Wurzeln abgekoppelt? Sind wir im besten Sinne Heiden geworden?


Habermas: Gibt es überhaupt Heiden im besten Sinne des Wortes? Einer der weniger glücklichen Aspekte von Nietzsches Wirkungsgeschichte ist ja die Idee eines neuen Heidentums, das hinter die Worte von Christus und Sokrates, ja hinter die Anfänge des Monotheismus zurückstrebt, um die dekadenten Spätgeborenen im Jungbrunnen archaischen Denkens zu erneuern. Schon die moderne Malaise, die auf diese fragwürdige Weise kuriert werden soll, verrät den unhistorischen Gebrauch des Wortes: Atheisten sind keine Heiden.


Wie alle anderen sind auch sie Erben einer Revolution der Denkungsart, die um die Mitte des ersten Jahrtausends vor Christus gleichzeitig in Indien und China, im vorderen Orient und in Griechenland stattgefunden hat. Die Weisheitslehren und Weltreligionen, die in jener ¸¸Achsenzeit" (wie sich Jaspers ausdrückt) entstanden sind, waren ein unerhörter kognitiver Schub, von dem wir bis heute zehren. Empirisch muss man feststellen, dass sich diese spirituellen Quellen nicht einmal im säkularisierten Europa ganz erschöpft haben. Es ist auch keineswegs ausgemacht, dass moderne Gesellschaften aus den säkularen Quellen von Literatur, Kunst und Philosophie allein ausreichende Kräfte zur Erneuerung ihres aufgeklärten normativen Selbstverständnisses ziehen können. Unsere postsäkularen Gesellschaften gehen aus guten Gründen mit den religiösen Quellen ihrer Inspiration schonend um; bei uns sind das in erster Linie christliche Quellen.


Andererseits wird unser modernes Selbstverständnis unter anderem in Menschen- und Bürgerrechten ausbuchstabiert, die den Mitgliedern aller Religionsgemeinschaften gleichermaßen zustehen und darum nur von einer weltanschaulich neutralen Staatsgewalt garantiert werden können. Deshalb kann das Christentum den Schutz der Verfassung nur dann auf rechtmäßige Weise genießen, wenn es in der Verfassung keine privilegierte Stellung einnimmt, auch nicht in der Präambel. Müsste eine besondere, verfassungsrechtlich fixierte Wahlverwandtschaft mit einer Kultur nicht auch dem universalistischen Anspruch des Christentums selber widersprechen?


Interview: Andreas Zielcke


Quelle: Süddeutsche Zeitung
Nr.138, Freitag, den 18. Juni 2004 , Seite 15









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