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[2003. 07. 08] 37. Whitehead:Zur Einfuhrung (Text)





Michael Hauskeller
Alfred North Whitehead : Zur Einführung
Junius Verlag, 1994.






VII. Resümee




1. Die Aufhebung der Gegensätze im Rhythmus der Kreativität

Am Anfang der Whiteheadschen Philosophie stand das doppelte Paradox unserer Erfahrung der Welt als Vielheit in der Einheit und als Einheit in der Vielheit. Ausdruck der grundsätzlichen Vielheit war die scheinbare Unvereinbarkeit von gegensätzlichen Erfahrungen von Welt. Ausdruck der Einheit aber die faktische Verbundenheit der Welt im Subjekt der Erfahrung. Als Aufgabe des Systems wurde aufgewiesen, die Verbundenheit denkbar zu machen und zu zeigen, in welcher Weise das Viele im Einen gründet:»Die Kategorien sind dazu da, um das Paradox dieser wechselseitigen Verbundenheit aller Dinge aufzuklären: das Paradox ihrer Vielheit und der einen Welt, die zugleich in ihnen und außerhalb von ihnen ist.«(AI, 405/293)

Die in dieser Einführung vorgelegte Darstellung von Whiteheads Kosmologie ließ sich durch die Analyse der gegensätzlichen Weltaspekte Geist und Körper, Freiheit und Notwendigkeit, Werden und Sein, Wert und Tatsache leiten. All diese Gegensätze zeigten sich in der Analyse als interdependente und komplementäre Momente einer einzigen Wirklichkeit, so nämlich, dass nicht nur das eine die notwendige Grundlage des anderen bildet und umgekehrt, sondern auch, dass das eine im Übergang (»transition«) von einem wirklichen Einzelwesen zum nächsten in die Rolle des anderen schlüpft. Die Spaltung der Welt in zwei oder mehr Teile wird in der von Whitehead ausgeführten Konzeption der Wirklichkeit somit in zwei Schritten überwunden. Der erste Schritt ist die Darstellung der notwendigen Verbundenheit der Gegensätze im Wesen des Wirklichen und der zweite Schritt die Selbsttranszendierung der Gegensätze im Prozeß des Übergangs. Die notwendige Verbundenheit meint konkret, dass es nichts Wirkliches in der real existierenden Welt gibt, das nur Körper oder nur Geist wäre, nur in Freiheit oder nur mit Notwendigkeit, nur werdend oder nur seiend, nur Wert oder nur Tatsache. Die Wirklichkeit ist immer bipolar: »Überall im Universum herrscht die Einheit der Gegensätze, die den wahren Kern des Dualismus ausmacht.« (AI, 348/245)

Die Selbsttranszendierung der Gegensätze als zweites geschieht im Moduswechsel von subjektiver Unmittelbarkeit zu objektiver Unsterblichkeit, durch welchen die begrifflichen Erfassungen des geistigen Pols eines wirklichen Einzelwesens A zu Inhalten körperlicher Erfassungen eines wirklichen Einzelwesens B werden, das Moment der Freiheit in A zu einem Moment der Notwendigkeit in B, das Werdende zu einem Seienden, der Wert des sich selbst setzenden Individuums zu einer Tatsache der wirklichen Welt.

Zu beachten ist auch, dass die vier untersuchten Gegensatzpaare auch als vier Aspekte eines einzigen Gegensatzes gefasst werden können. Die Begriffe Geist, Freiheit, Werden und Wert beschreiben die reale Welt als Subjekt, die Begriffe Körper, Notwendigkeit, Sein und Tatsache als Objekt der Erfahrung. Jedes Subjekt ist erstens konstitutiv auf dein Objekt bzw. die Gesamtheit seiner Objekte bezogen und wird zweitens selbst zu einem Objekt eines neuen Subjekts. Der Schlüssel zur Überwindung der Inkonsistenz der Gegensätze ist somit das prozessuale Verständnis der Welt:»Der Prozeß ist der Weg, auf dem das Universum dem Ausschließenden der Inkonsistenz entkommt« (MT, 54)

Das Prozessprinzip erweist sich so in seiner dialektischen Funktion. Es erklärt, wie sich die existentiellen Gegensätze in einem ewigen Rhythmus des Werdens und Vergehens ständig selbst überwinden und gleichzeitig bewahren: Das ist die Aufhebung der Gegensätze im Rhythmus der Kreativität. Allein auf die temporäre Welt bezogen reiht diese allerdings noch nicht weit genug, insofern sie zwar anscheinend die Gegensätze, nicht aber die Kontingenz der Welt überwindet. Es muß der Weltprozeß selbst im schlechthin Notwendigen einen Grund finden und das ewige Werden in einem umfassenderen Sein verankert werden. Mit anderen Worten: Die Welt muß nicht nur verbunden, sondern auch eins sein. In Gott nimmt der Weltprozeß seinen permanenten Anfang und sein permanentes Ende. Als uranfängliche Tatsache ist er die ewige Bedingung der Möglichkeit des weltlichen Werdens, und als Folgenatur ist er der Fortbestand des Vollbrachten. Doch auch Gott ist nicht nur die Einheit des Universums, sondern auch wieder ein Teil eines Gegensatzpaares. Der letzte und äußerste Gegensatz ist der von Gott und Welt, und auch er muß überwunden werden, wenn die Einheit, die keine Einheitlichkeit ist, vollkommen sein soll: »Entgegensetzte Elemente sind wechselseitig aufeinander angewiesen.« (PR 622/529/348)

Gott braucht die Welt ebenso sehr, wie die Welt Gott braucht. Die Prozesse beider verlaufen in umgekehrter Richtung. Sie erhalten jeweils voneinander, was sie nicht selbst haben: Die Welt bezieht ihren geistigen Pol aus Gott, so wie Gott seinen körperlichen Pol in der Welt hat. Die Welt besteht aus Subjekten, die in Gott objektive Unsterblichkeit finden, und Gott ist ein uranfängliches Objekt, das mittels der Welt subjektive Unmittelbarkeit erlangt. Gott ist die Welt unter dem Aspekt der Ewigkeit betrachtet, und die Welt ist unter dem Aspekt der Zeitlichkeit betrachtet. Die Welt gibt Gott Vielheit, und Gott gibt der Welt Einheit. So umfasst letztlich der Rhythmus der Kreativität auch diesen letzten Gegensatz von Gott und Welt und hebt ihn in der höchsten Einheit des Uni-Versums auf:

»Es ist genauso wahr zu sagen, dass Gott beständig ist und die Welt fließend, wie zu behaupten, dass die Welt beständig ist und Gott fließend.
Es ist genauso wahr zu sagen, dass Gott eins ist und die Welt vieles, wie zu behaupten, dass die Welt eins ist und Gott vieles.
Es ist genauso wahr zu sagen, dass Gott im Vergleich mit der Welt höchst wirklich ist, wie zu behaupten, dass die Welt im Vergleich mit Gott höchst wirklich ist.
Es ist genauso wahr zu sagen, dass die Welt Gott immanent ist, wie zu behaupten, dass Gott der Welt immanent ist.
Es ist genauso wahr zu sagen, dass Gott die Welt transzendiert, wie zu behaupten, dass die Welt Gott transzendiert. Es ist genauso wahr zu sagen, dass Gott die Welt erschafft, wie zu behaupten, dass die Welt Gott erschafft.
Gott und die Welt sind die im Kontrast stehenden Gegensätze, mit Hilfe derer die Kreativität ihre höchste Aufgabe erfüllt, die getrennte Vielheit, mit ihren im Gegensatz stehenden Verschiedenheiten, in die sich konkretisierende Einheit umzuwandeln, deren Verschiedenheiten Kontraste bilden.«(PR, 621/528/348)

Der Widerspruch der Gegensätze verwandelt sich in einen Kontrast, in dem Einheit und Vielheit in vollkommenem Gleichgewicht verbunden sind.





2. Der Erfolg des Systems

Sicherlich ist das System der organismischen Philosophie nicht perfekt, doch wann hätte es je ein perfektes System gegeben? Es liegt Whitehead auch fern, einen Anspruch auf gesicherte Erkenntnis zu erheben:»[…] im allgemeinen […] ist vollständige Gewissheit unerreichbar.«(SMW, 36/23) Die organismische Philosophie ist vielmehr ein Versuch, sich der Wahrheit anzunähern und innerhalb der menschlichen Grenzen ein Stück von der Wirklichkeit, der wir angehören, zu begreifen. Sie beinhaltet den Entschluß, dabei so umsichtig und so vorsichtig wie nur möglich vorzugehen, ohne doch das Ziel nur einen Moment lang aus dem Blick zu verlieren: Das System ist umsichtig insofern, als es allen menschlichen Erfahrungen im gleichen Maße gerecht zu werden bemüht ist, vorsichtig, insofern es von sich logische Widerspruchslosigkeit und die Vermeidung der willkürlichen Unverbundenheit erster Prinzipien fordert.

Doch manchmal lässt sich trotz allen Bemühens nicht alles gleichzeitig beachten, und es ist eindeutig, dass Whitehead im Zweifelsfall die Adäquanz der Konsistenz vorzieht. Dies zeigte sich z.B. in der Diskussion der Theorie der epochalen Zeit und auch im Begriff der superjektiven Natur Gottes. Auch die wirklich erstaunliche Kohärenz des Systems konnte von Whitehead offenbar nicht in allen Punkten durchgehalten werden. Der Unterscheidung zwischen zeitlosen Gegenständen der objektiven Art und der subjektiven Art etwa haftet eine gewisse Willkür an. Sie scheint zumindest keinen Grund in der Natur der Dinge zu haben und wird anscheinend eingeführt, um die Konsistenz der Wahrnehmungstheorie zu wahren.

Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich, wenn man die scheinbar so banale Frage stellt, wie viele wirkliche Einzelwesen es eigentlich in einem beliebigen Augenblick des Prozesses gibt. Unendlich viele können es nicht sein, da in diesem Fall eine Termination des Zusammenwachsens in der Erfüllung aufgrund der mangelnden durchgängigen Bestimmtheit des Datums nicht zustande kommen könnte. Die wirkliche Welt eines entstehenden wirklichen Einzelwesens muß eindeutig bestimmt, und das heißt begrenzt, sein. Gibt es aber endlich viele wirkliche Einzelwesen, so müsste es ein Prinzip geben, welches die Zahl ermittelt. Ein solches Prinzip ist jedoch nirgends ersichtlich. Auch könnte die Zahl der Wirklichkeiten sich verändern oder aber immer gleich bleiben.

Ein ähnliches Problem betrifft die Dauer von wirklichen Einzelwesen. Whitehead scheint der Meinung zu sein, dass der Werdeprozeß verschiedener wirklicher Einzelwesen unterschiedliche Zeitspannen in Anspruch nimmt, ein Mensch etwa eine größere Spanne als ein Elektron. Wie lässt sich der Unterschied begründen, wenn doch die zu erfassende Welt für beide (annähernd) dieselbe ist?

Obwohl dies sicherlich Probleme sind, die man nicht so einfach außer acht lassen sollte, bleiben sie doch geringfügig angesichts der Komplexität, Elaboriertheit und vor allem auch Ausgewogenheit des Systems in seiner Totalität. Der Eindruck, dass alle Details in wunderbarer Weise zueinander passen und sich so gegenseitig ergänzen, dass sie sich zu einem philosophischen Weltbild von bemerkenswerter Klarheit zusammenfügen, ist vorherrschend. Und wenn die Philosophie Whiteheads in Europa bisher so wenig Einfluß gehabt hat, so ist das um so bedauerlicher, als der Grund hierfür sicherlich nicht in den Mängeln des Systems zu finden ist. Vielleicht hat Hartshorne recht, wenn er schreibt, dass »das Haupthindernis für eine allgemeinere Wertschätzung der Größe und Wahrheit von Whiteheads Philosophie nicht irgendwelche in ihr enthaltenen Mängel sind, sondern eben diese Größe und Wahrheit selbst.«

Was auch immer der Grund für die weitgehende Nichtbeachtung sein mag: Angesichts des durch seine praktischen Konsequenzen offenbar gewordenen Scheiterns der neuzeitlich bestimmten Naturbetrachtung wäre es an der Zeit, die gewohnten Bahnen des Denkens zu verlassen und in der Beschäftigung mit Whiteheads Philosophie möglicherweise einen philosophischen Paradigmenwechsel einzuleiten, der längst überfällig ist.





Michael Hauskeller
Alfred North Whitehead : Zur Einführung
Junius Verlag, 1994. S.167-173










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