Bibliothek zum Wissen





2005/09/16 (21:31) from 129.206.196.140' of 129.206.196.140' Article Number : 198
Delete Modify Geist Access : 13087 , Lines : 91
Gerechtigkeit
Download : Gerechtigkeit.jpg (34 Kbytes)

Gerechtigkeit.jpg
△ Detail des Michaelsbildes aus Gotland: Ungleiche Waagschaalen ⓒ Klosterkirche


Gerechtigkeit Gottes und des Menschen



Gerechtigkeit Gottes

I. Religionsgeschichtlich
II. Im AT und Judentum
III. Im NT
IV. Dogmatisch



I. Religionsgeschichtlich

   Da der Begriff von Gottes Gerechtigkeit notwendigerweise auf Religionen beschränkt ist, die die Gottheit ethisch und personal begreifen, soll hier vom  Buddhismus abgesehen werden, der trotz weiten ethischen Interesses Gerechtigkeit von einer unpersönlichen Quelle herleitet. Ebenso kann der traditionelle  Shintoismus außer Betracht bleiben, der die Bedeutung von Göttern zwar anerkennt, sie aber nicht mit der Ethik in Verbindung bringt.
   In  Ägypten (: II, 3) kannte man die Vorstellung eines Prinzips der  Ordnung in der Natur, des  Rechts und der Wahrheit unter Menschen, das man als Maat bezeichnete. Die frühesten Texte verbinden sie primär mit dem Sonnen-Gott Re; später aber schrieb man fast allen Göttern Maat zu und wußte, daß deren Verletzung bestraft werde. Eine ontologische Abhängigkeit von Maat wird angedeutet durch folgende Aussagen: Maat ist Schöpfung öder göttliche Tochter des Re, aber auch der Leib, die Nahrung oder das »schöne«  Wort des Gottes. Man identifizierte sie praktisch mit unvordenklichen sozialen Konventionen. Daher war die Gerechtigkeit der ägyptischen Götter eine menschliche, zu der die menschliche Weisheit ein zuverlässiger Führer war.
   Sumerische Dokumente weisen manchmal auf me, die Totalität der uranfänglichen Pläne der schaffenden Götter, womit sie die Natur, Funktion, Bestimmung und auch Verhaltensnorm jedes zu erschaffenden Dinges festgelegt hatten. Als ethisches Prinzip ist dieses bemerkenswerterweise nicht auf den Charakter der sumerischen Götter bezogen, können doch nach einem frühen mesopotamischen Mythos die göttlichen Wesen auch ethisch versagen.. Eine klare, zusammenhängende Moraltheologie taucht erst in der Schamasch-Literatur des 2. Jt.s v. Chr. auf sowie später in den Mardukhymnen. Diese Götter belohnen und bestrafen Tugend und Laster durch weltlichen Erfolg oder Leiden. Als man das Elend der offensichtlich Tugendhaften bemerkt, da weisen einige Hymnendichter daraufhin, daß göttliche und menschliche Gerechtigkeit nicht miteinander zu vergleichen seien (ANET 435. 392).
   Daß Allah der Gerechte (al-'Adl) ist, bezeugt für den Islam der  Koran, wo Allahs Forderung nach Gerechtigkeit und seine endgültige Abrechnung mit den Widerstrebenden überall ausgesprochen werden. Oft wird die peinliche Redlichkeit seines Urteils betont (2, 286; 4, 44; 22, 10). Aber der Koran betont noch mehr Allahs unbeschränkte  Macht (: I). Auf diesem Element bauten die islamischen Juristen das  Prädestinations-Dogma auf. Andererseits versicherten spätere islamische Theologen, Allahs Gerechtigkeit sei eine offenbarte Wahrheit, und wiesen daraufhin, daß eine Aussage sich in ihrer Bedeutung ändert, wenn sie nicht über den Menschen, sondern über Allah gemacht wird. So ist es seine Gerechtigkeit, die einige zur  Hölle sendet wegen Sünden, die er verordnete; er ist durch nichts gebunden und tut, was immer er will, gerecht (McCarthy 97 ff.).
   Iranische und chinesische Religion bieten ferner umfangreiches religionsgeschichtliches Material ( Iran: II,  China: II). Eine radikal theistische Ethik begegnet im  Hinduismus fast ausschließlich in der Vaishnava-Literatur. Die Gîtâ beruft  Vishnu zum Grund, Schützer und periodischen Wiederhersteller dharmas oder der Gerechtigkeit (14, 27; 11, 18; 4, 8). Râmânuja verkündigt, daß das oberste Wesen absolute Güte sei und sein Gefallen und Mißfallen das Wesen von gut und böse bestimmen (SBE 48, 1904, 354. 487 ff. 770). - Vgl.  Gesetz,  Makrokosmos und Mikrokosmos,  Recht: II,  Theodizee: I.

    ThW II, 180 ff. 184 ff. - W. V. SODEN, Religion u. Sittlichkeit nach den Anschauungen der Babylonier (ZDMG 89, 1935, 143-169) - ANET 387 ff. 434 ff. - W. B. KRISTENSEN, De dubbele     Gerechtigheid (JAA 1950, 152-174) - RÄRG 430 ff. (Lit.) - R. J. MCCARTHY (Übers.), The Theology of al-Ash'ari, 1953, 97 ff. u. passim - H. VOS, Themis (Diss. Utrecht), 1956 - M. P. NILSSON, Die Griechengötter u. die Gerechtigkeit (HThR 50, 1957, 193-210).
                                                                  N. J. Hein

II. Im AT und Judentum
   
1. Definiert man Gerechtigkeit als »immerwährenden und gleichbleibenden Willen, jedem sein Recht zuzuteilen« (Ulpian, um 200 n. Chr.), so würde diese Bestimmung, auf die at. Aussagen von sædæq und sedaqa angewendet und insonderheit auf die G. G. zielend, Wesentliches davon nicht ins Licht bringen. Das AT bestimmt Gerechtigkeit von der G. G. her. Diese aber ist wie Name, Heiligkeit, Glanz und Majestät Gottes ein aus Gottes Sphäre hervorgehendes und sich wirkend der Welt zuwendendes Handeln Gottes (Ps 48, 11; 89, 17; 97, 6). Darum spielt die G. G. ihre Rolle in den Theophanieschilderungen (Ps 50, 6; 85, 14; 96, 13; 98, 9; Hos 10, 12); sie ist die Stätte, auf der der Königsthron Gottes steht (Ps 89, 15; 97, 2), die Gottes Hand und Arm stärkende Kraft (Jes 59, 16; Ps 48, 11), sein Panzer (Jes 59, 17) und darum auch der Lendengurt des eschatologischen Heilskönigs als seines Repräsentanten (Jes 11, 5). Solche Königs-Gerechtigkeit, die auch den Ort der irdischen Kultgegenwart Gottes durchzieht (Jes 33, 5), darf schauen, zu wem sich Gott im Sakralprozeß bekennt (Mi 7, 9; vgl. Ps 17, 15), während Schuldige von ihrem Wirkungsbereich ferngehalten werden (Ps 69, 28). Menschen werden mit ihr bekleidet (Ps 132, 9. 16; Jes 61, 10), Könige mit ihr begabt (Ps 72, 1). Bis zur Personifikation (Ps 85, 11 f.) kann von solcher Gerechtigkeit gesprochen werden. Doch ist es zur Abspaltung von der Wesenssphäre Jahwes und zur hypostatischen Verselbständigung im AT nicht gekommen. Anders in der Umwelt; so die ägyptische Maat ( Ägypten: II, 2. 3), so das Paar Kettu und Mesaru im Akkadischen, Sdq und Ysr in  Ugarit, Misor und Sydyk nach  Philo von Byblos in Phönikien (vgl. auch innerhalb wie außerhalb des AT theophore Personennamen mit Sdq;  Namengebung).
   
2. Auf göttliche Gerechtigkeit richtet sich Lob und  Bekenntnis (: II) in Israel (Ps 7, 18; 33, 1 ff.; 35, 28; 40, 11; 71, 16. 24; 145, 7), weil sie als heilvolle, rettende Gotteshilfe zu erfahren ist (Jes 45, 21; 51, 5 f.; 56, 1; 62, 1; 63, 1; Ps 24, 5; 65, 5 u. a.). Die Kette der »Gerechtigkeiten Jahwes«, seiner Israel begründenden Heilstaten, sind altes (Ri 5, 11) und immer erneut in Erinnerung gerufenes (1Sam 12, 7; Mi 6, 5) Credo (vgl. auch Ps 78, 4). Feindwille muß an der G. G. zuschanden werden (Jes 41, 10 f.; 54, 17; Ps 129, 4 f.); so ruft nach ihr, wer Rettung ersehnt (Ps 71, 2; 143, 11; 119, 40). Nicht nur die  Gemeinschaft (: II) und der einzelne in ihr erfahren das helfende und fördernde Zurechtbringen aus der Kraft der G. G. (Jes 45, 24), auch der Natur kann solches auf Geordnetheit und Gedeihen gerichtete Walten zuteil werden (Hos 10, 12; Jo 2, 23; Jes 32, 15 ff.; 45, 8; 48, 18 f.; Jer 31, 23). G. G. ist somit ein tätiges Rechtheitswollen, das Natur und Gemeinschaft auf Segen (Ps 24, 5) und ungefährdeten Frieden (Ps 85, 10 ff.) hin ordnet, heilt und belebt (Mal 3, 20). Weil der rechtheitliche Königswille Gottes die rechtheitliche, die sach- wie willensgerechte Ordnung der Dinge (vgl. hierzu auch Lev 19, 36; Jes 61, 3; Ps 23, 3; Dtn 33, 19; Ps 4, 6; 51, 21) und Zustände will und wirkt, erweist er eindringlich Gottes Gemeinschaftstreue (hæsæd: Ps 85, 11; 103, 17; 145, 17; Hos 2, 21 f.;  Gnade Gottes: II) in ihrer Lauterkeit, Geradheit und Verläßlichkeit (Dtn 32, 4; Ps 33, 4 f.; 19, 10; 143, 1; 119, 142; Neh 9, 8).
   
3. Hilfe für »gerechte«, gedeihliche Geordnetheit Israels und der Welt überhaupt wider Störung, Beeinträchtigung, Gefährdung soll das Recht (mispat) sein. So finden sich Gerechtigkeit und Recht häufig nebeneinander (Am 5, 24; Ps 36, 7; 72, 1; 103, 6), teils undifferenziert (Dtn 33, 21; Jes 58, 2), teils dahin unterschieden, daß Gerechtigkeit Rechtsmächtigkeit ist, kraft der Entscheide gesetzt und durchgesetzt werden, Geordnetheit begründet und bewirkt wird, erklärte Rechte rechtmäßig und rechtsgültig werden. Gerechtigkeit als Rechtsmächtigkeit eignet gerade Gott (Jes 26, 9; 42, 6; 45, 13; Hi 34, 17; Ps 119, 7. 62). Er, dem das Recht zugeordnet ist (Dtn 1, 17), tritt als Richter vor die Menschen (Gen 18, 25; Jes 33, 22; Ps 9, 9; 50, 6; 58, 12; 94, 2), und gerade er übt diese Funktion »rechtsmächtig« (Ps 9, 5; Jer 11, 20) aus und erweist sich (Jes 5, 16), seine heilsamen Entscheide (Zeph 3, 5; Ps 119, 75), Weisungen (Jes 42, 21) und Gebote (Ps 19, 10; 119, 7. 62) als »gerecht«. Wie ihm richterliche Überprüfung zusteht (Jer 11, 20), so rufen die in ihrem Recht Behinderten und Verkürzten ihn als Helfer an (Gen 16, 5; Ri 11, 27; 1Kön 8, 31 f.; Ps 103, 6). Gerade in verläßlicher, sozial ausgleichender Rechtshilfe (mêsarîm) will Gottes Gerechtigkeit sich wohltuend und gemeinschaftstreu erweisen (Ps 9, 9; 98, 9; [96, 13;] 99, 4; Jes 45, 19). Überall (auch Jes 5, 16) ist Gerechtigkeit eine Heilsgabe Gottes; von einer strafenden Gerechtigkeit (Nötscher) kann man nirgendwo sprechen (Cazelles). Wo Gott nicht in Gerechtigkeit waltet, herrscht sein Zorn (Dan 9, 16; vgl. auch  Hiobbuch).
   
4. Wie sich zu solcher göttlichen Gerechtigkeit menschliches Gerechtsein verhält, zeigt unbefangen das rein juristische Verständnis von Gerechtigkeit in Neh 2, 20 (vgl. 2Sam 19, 29; auch Spr 8, 18): eingereiht in Anteilhaben an der Bodennutzung und am Kult meint Gerechtigkeit hier Eingliederung in einen Gemeinschaftsverband zur Teilhabe an dessen Rechten und Pflichten. So ist, da Gerechtigkeit primär ein religiöser Begriff ist, »gerecht«, wer dem Heilsbereich göttlichen Rechtheitswirkens eingegliedert ist (Ps 1, 5; Jes 60, 21), hier Hilfe und Förderung erfährt (Jes 45, 24; Sach 9, 9) und hier sich in die Pflicht zu gemeinschaftsgerechtem Handeln gegen den  Bund (: II) setzenden Gott und die von diesem Bund Umschlossenen genommen weiß. Der Israelit, der im Kult der segnenden Nähe seines Gottes teilhaft werden will, hat an den »Toren der Gerechtigkeit« (Ps 118, 19 f.; Jes 26, 2) den Huldigungseid zu sprechen und den ihm verkündeten Rechtswillen Gottes bekennend zu übernehmen (Ps 15; 24, 3 ff.; 119, 106; vgl. Ez 18, 5 ff.). Gott erkennt Gerechtigkeit dem zu, der die verläßliche Rechtheit Gottes bekennt, indem er Gottes Zusagen ernst nimmt (Gen 15, 6), seiner Hilfe traut (Ps 32, 10 f.) und seine Weisungen achtet (Dtn 6, 25; Jes 51, 7; 56, 1 u. a.). Wer wider Beschuldigung und Anfeindung seine Sache im Sakralprozeß Gott anheimgibt, daß er des Beters Recht wie Licht herausgehen lasse (Ps 17, 1 f.; 37, 5 f.; Jes 62, 1; Jer 51, 10), kann deshalb für solche Bitte wie an Gottes Gerechtigkeit (Ps 35, 24) so an die eigene (Ps 7, 9) erinnern. Diese Zugeordnetheit zeigt sich auch darin, daß Menschen aufgefordert werden, Gerechtigkeit zu lernen, zu erkennen, zu tun, zu bewirken, nach ihr zu suchen und zu trachten, aber daß solche Pflicht ihnen zugewiesen wird, weil sie aus der Zuwendung heilvoller göttlicher Gerechtigkeit leben dürfen (Jes 56, 1 u. ä.). Andererseits schwindet darum auch vor dem  Zorn Gottes (: II) menschliche Gerechtigkeit dahin oder steht wie in Unrat getaucht da (Jes 54, 5; Hi 9, 30 f.). Dann bleibt, solange es keine causa iudicata ist, dem Menschen (dem einzelnen oder der Gemeinschaft) der Weg der aus Confessio und Doxologie bestehenden Exhomologese, um die Wiederzuerkennung von Gerechtigkeit zu erbitten (Hi 5, 8 ff.; 8, 4 ff.; 33, 26 f.; Mi 7, 9; Klgl 1, 18). Hiob, der diesen Weg zu gehen abweist, erscheint deshalb seinen Freunden als vermessen, weil wer dem Zorn Gottes die eigene (bessere) Gerechtigkeit entgegenwirft, Gott ins Unrecht abzudrängen sich unterfängt (Hi 4, 17; 32, 2). Doch bei aller Gefährlichkeit (9, 19 ff.) beharrt Hiob darauf, mit seiner Klagesache wider den zürnenden Gott an den »gerechten« zu appellieren (27, 6). Was anderwärts, gerade in Kreisen der  Weisheit, als freudig bejahter Lebenswert galt, das paradigmatische Bild des »Gerechten« (vgl. Ps 1; 119) zu übernehmen, einzuüben und daran sich zu bewähren, wird von Hiob in notvollster Angefochtenheit durchgehalten. Es wird damit auch gegen die Skepsis hinsichtlich des Zusammenhangs von Gerechtigkeit und Heil (vgl. Pred 7, 15; 9, 1 f.) durchgehalten.
   
Gottes (: II) menschliche Gerechtigkeit dahin oder steht wie in Unrat getaucht da (Jes 54, 5; Hi 9, 30 f.). Dann bleibt, solange es keine causa iudicata ist, dem Menschen (dem einzelnen oder der Gemeinschaft) der Weg der aus Confessio und Doxologie bestehenden Exhomologese, um die Wiederzuerkennung von Gerechtigkeit zu erbitten (Hi 5, 8 ff.; 8, 4 ff.; 33, 26 f.; Mi 7, 9; Klgl 1, 18). Hiob, der diesen Weg zu gehen abweist, erscheint deshalb seinen Freunden als vermessen, weil wer dem Zorn Gottes die eigene (bessere) Gerechtigkeit entgegenwirft, Gott ins Unrecht abzudrängen sich unterfängt (Hi 4, 17; 32, 2). Doch bei aller Gefährlichkeit (9, 19 ff.) beharrt Hiob darauf, mit seiner Klagesache wider den zürnenden Gott an den »gerechten« zu appellieren (27, 6). Was anderwärts, gerade in Kreisen der  Weisheit, als freudig bejahter Lebenswert galt, das paradigmatische Bild des »Gerechten« (vgl. Ps 1; 119) zu übernehmen, einzuüben und daran sich zu bewähren, wird von Hiob in notvollster Angefochtenheit durchgehalten. Es wird damit auch gegen die Skepsis hinsichtlich des Zusammenhangs von Gerechtigkeit und Heil (vgl. Pred 7, 15; 9, 1 f.) durchgehalten.
   
5. Wie die spätere Klage herausstellen kann, daß vor Gott nicht eigene Gerechtigkeit gilt (Ps 143, 1; Hi 4, 17), sondern allein sein Erbarmen (Dan 9, 18;  Gnade Gottes: II), so bleibt in der nachbiblischen (PsSal 5, 1 f.; Jub 1, 15; 31, 25; 4Esr 8, 36) und rabbinischen Literatur Gottes Gerechtigkeit eng mit seinem Erbarmen verbunden, und zuweilen wird solche Gerechtigkeit (sedaqa) dem richterlichen Walten Gottes (dîn), das jedem gibt, was ihm zukommt, entgegengesetzt, Gerechtigkeit als menschliches Tun wird, wie bereits Dan 4, 24 (Sir 7, 10; Tob 12, 9), als Erweis von Barmherzigkeit verengt zur Wohltätigkeit des Almosengebens. Solche Liebeswerke häufen neben anderen Gebotserfüllungen Verdienste (zakût: die zur Rechtheit gehörende Reinheit) an. Um aber vor Gott gerecht zu sein, zumal im Endgericht, müssen die Verdienste die Übertretungen überwiegen.

    E. KAUTZSCH, Über die Derivate des Stammes sdq im at. Sprachgebrauch, 1881 - H. CREMER, Die paulin. Rechtfertigungslehre im Zusammenhang ihrer geschichtl. Voraussetzungen, (1899) 19002, 11 ff. - F. NÖTSCHER, Die G. G. bei den vorexil. Propheten (ATA VI, 1), 1915 - J. PEDERSEN, Israel I. II, (1920; dän.) 1926 (engl.), 336 ff. - A. MARMORSTEIN, The old rabbinic doctrine of God, 1927 - W. W. GRAF BAUDISSIN, Kyrios als Gottesname im Judentum u. seine Stelle in d. Religionsgesch. III 1929, 398 ff. - K. H. FAHLGREN, Sedaka nahestehende u. entgegengesetzte Begriffe im AT, 1932 - ThW II, 176 ff. - H. CAZELLES, A propos de quelques textes difficiles relatifs à la justice de Dieu dans l'AT (RB 58, 1951, 169-188) - K. KOCH, Sdq im     AT (Theol. Diss. Heidelberg), 1953 (Masch.) - E. JACOB, Théologie de l'AT, 1955, 75 ff. (Lit.) - G. V. RAD, TheolAT I, 1957, 368 ff. - R. MACH, Der Zaddik in Talmud u. Midrasch, 1957.
                                                                     F. Horst

III. Im NT

   Außerhalb der Briefe des Paulus und seiner Schüler ist im NT fast ausschließlich von der Gerechtigkeit als dem rechten Verhalten des Menschen die Rede. Sie kann G. G. heißen, weil Gott allein bestimmt, was Gerechtigkeit ist (Jak 1, 20; vgl. Mt 6, 33). Daß solche Gerechtigkeit gerade dem zuteil wird, der sie nicht schon zu besitzen meint, sondern nach ihr hungert und dürstet, weiß Mt 5, 6. Daß Gott oder Christus als Richter amtet, ist durchweg vorausgesetzt oder verkündet, ohne daß der Begriff »G. G.« auftaucht (doch vgl. Apg 17, 31; Apk 19, 11; 2Tim 4, 8 klingt vielleicht Paulinisches nach). Der at. Gedanke vom Rechtsstreit zwischen Jahwe und der Welt, in dem sich Gottes  Gerechtigkeit (: II) erweist, lebt auch im NT weiter. 1Tim 3, 16 wird in einer geprägten Glaubensformel der Gemeinde die Auferstehung bzw. Erhöhung Jesu als Sieg im Rechtsprozeß verstanden: »als der Gerechte erwiesen im Geist«, Das JohEv ist durchzogen von dem Gedanken, daß Jesus, der Geist, die Jünger als Zeugen vor aller Welt Gottes Gerechtigkeit aufweisen und für sie einstehen (16, 8-11; 17, 25; Preiss). Im Wirken Jesu vollzieht sich schon das eschatologische gerechte  Gericht Gottes (5, 27-30; 3, 18-21), dessen Gerechtigkeit sich den ihre Sünden Bekennenden auch in der Vergebung zeigt (1Joh 1, 9). Etwas anders liegt die Verkündigung Jesu als des »Gerechten«, dem die Ungerechtigkeit der Menschen entgegentritt (Apg 3, 14; 7, 52; 22, 14).
   Der Rechtsstreit Gottes mit der Welt und nicht die Sündennot des Individuums (dagegen vgl. Phil 3, 6) gibt wohl auch den Ansatz für das paulinische Denken (Röm 3, 4. 26). Freilich ist Gottes Gerechtigkeit wie im AT nicht so sehr als seine Eigenschaft denn als sein Handeln, seine »Kraft« (Röm 1, 17) gesehen. Sie ist auch für Paulus die im Endgericht den Sünder strafende Gerechtigkeit (Röm 2, 2-11). Wie kann Gott aber als gerechter Richter handeln, wenn er einerseits seinem Volk schon vor dem Gesetz die Verheißungen gegeben hat (Röm 9, 4; Gal 3, 15-18. 29), andererseits aber alle Menschen als Sünder verurteilen muß (Röm 3, 1-20)? In der Verurteilung Jesu hat Gott seine Gerechtigkeit erwiesen (Röm 3, 21-26; 8, 3 f.), indem er die Sünde richtete. Aber er hat sie dem angerechnet, den Fluch dem auferlegt, der keine Sünde hatte (2Kor 5, 21; Gal 3, 13). So bedeutet die »Gabe der G.« G. für den Menschen das Leben (Röm 5, 17), und ihr Gegenteil bedeutet »Verurteilung« (2Kor 3, 9). Doch ist dies kein Tun »als ob« (dagegen Jak 2, 20-26). Gottes richterliche Gerechtigkeit ist dadurch nicht angetastet. Auch für den Glaubenden erfolgt Gottes Gericht nach dem Werk eines jeden (1Kor 3, 13-15; 2Kor 5, 10; Gal 6, 4). Aber Paulus setzt nicht mehr den Plural, als könnte man gute oder böse Werke summieren. »Werk« ist nicht mehr Gesetzeswerk; es umfaßt die Ganzheit eines Menschenlebens. Dem Menschen wird »zur Gerechtigkeit angerechnet«, daß er denkend, fühlend, handelnd nichts anderes tut als »glaubt«, d. h. Gottes gerechtes Handeln in Jesus Christus anerkennt, ihm recht gibt im Rechtsstreit (Röm 4, 3-5). Gerade darin besteht des  Menschen Gerechtigkeit, daß er die Aufrichtung aller eigenen Gerechtigkeit aufgibt (Röm 10, 3-8). Sie wäre Gerechtigkeit aus dem Gesetz, die das messbare Tun verlangt (Röm 10, 5), mit dem der Mensch sich vor Gott behauptet und sich damit gerade der G. G. in Jesus Christus verschließt. Lebt er aber aus der »Gerechtigkeit von Gott her« (Phil 3, 9), dann wird er frei von aller Selbstbehauptung und damit frei zum Dienst der  Liebe (: III), die die wirkliche Erfüllung des  Gesetzes (: IV) ist (Röm 13, 10; Gal 5, 5 f.). So wird der Glaubende hineingenommen in Gottes eigene Gerechtigkeit, die ihn begnadet zum Glauben, d. h. zu dem Leben, das in der  Freiheit (: I) von allem Selbstruhm und in der Offenheit für den Nächsten Gott recht ist. So kann Paulus auch sagen, daß Christus selbst unsere Gerechtigkeit geworden ist (1Kor 1, 30). G. G. heißt also nicht nur, daß Gott gerecht ist. Dies erweist sich im forensischen Akt, in dem Gott gerecht handelt, endgültig im jüngsten Gericht (Gal 5, 5), grundsätzlich aber schon im Kreuzestod Jesu (Röm 5, 9, nachklingend Tit 3, 5-7). In dieses Ereignis der geschehenen G. G. wird der Mensch hineingenommen im Geschenk des  Glaubens (Gal 2, 16-21), das ihm seine  Rechtfertigung schenkt und eben damit jenes gehorsame Leben in der Anerkennung der G. G., das vor Gott recht ist (Röm 6, 12-23). So lebt Christus fortan in ihm, weil er mit Christus gestorben und in den Leib des Auferstandenen eingefügt ist (Gal 2, 20; Röm 6, 1-11; 1Kor 12, 13). So aber bleibt Gott Gott (Röm 9, 14-16; 11, 32-36).

   RGG2 II, 1040 (Lit.) - H. BRAUN, Gerichtsgedanke u. Rechtfertigungslehre bei Paulus, 1930 - F. V. FILSON, St. Paul's Conception of Recompense, 1931 - ThW II, 199 ff. (Lit.) - V. TAYLOR, Forgiveness and Reconciliation, 1941, 29 ff. - TH. PREISS, Die Rechtfertigung im johanneischen Denken (Hommage et Reconnaissance [Cahiers Théologiques de l'Actualité prot., hors-série 2], Neuchâtel- Paris 1946, 100-118; dt.: EvTh 16, 1956, 289-310) - BULTMANN, NT §§ 28-30 (Lit.) - A. DESCAMPS, Les justes et la justice dans les évangiles et le christianisme primitif hormis de la doctrine proprement paulinienne (Universitatis Catholici Lovanienses Diss. II, 43), Louvain 1950 - BAUER, WB 356 f. (Lit.) - H. H. WALZ u. H.-H. SCHREY,     Gerechtigkeit in bibl. Sicht, 1955 - EKL I, 1502 f.
                                                              E. Schweizer

IV. Dogmatisch

   1. Dogmengeschichtlich

   2. Systematisch
   
1. Der Begriff der G. G. wird in der Bibel mit demjenigen Handeln Gottes verbunden, durch das über Heil oder Unheil der Menschen die Entscheidung fällt ( Gerechtigkeit Gottes: II. III). Und zwar erscheint im AT und NT die G. G. vornehmlich im Zusammenhang des Heil-Wirkens Gottes, auf das der Glaubende hofft. Ps 31, 2: »Herr, auf dich traue ich, laß mich nicht zu Schanden werden; errette mich durch deine Gerechtigkeit« Röm 1, 17: im Evangelium »wird Gottes-Gerechtigkeit offenbart aus Glauben zum Glauben«. Beide Stellen haben in den dogmatischen Auseinandersetzungen über das Verständnis der G. G. eine wesentliche Rolle gespielt.
   Diese Auseinandersetzungen standen in der vorreformatorischen Theologie zunächst unter dem Schatten des Gerechtigkeitsbegriffes der antiken Philosophie, vornehmlich in der Form, in der er von  Aristoteles ausgebildet war. Danach wird Gerechtigkeit als Eigenschaft einer in richterlichem Amte waltenden Person verstanden. Sie wirkt sich aus als ausgleichende G. (iustitia commutativa): Verteilung umstrittener Güter nach gleichem Maß unter alle Beteiligten, und als austeilende Gerechtigkeit (iust. distributiva): Belohnung von Verdiensten und Bestrafung von Übeltaten in strenger Entsprechung zu dem jeweils positiv bzw. negativ Geleisteten (Aristoteles, Nikom. Ethik V). In der theologischen Anwendung auf die G. G. wurde vor allem der Gedanke der iustitia distributiva wirksam. Gerechtigkeit wurde dann verstanden als diejenige Eigenschaft Gottes, kraft deren er fähig und willens ist, auf das von Menschen Gewirkte je nachdem lohnend und strafend zu reagieren. In letzter Instanz, wenn auch nicht ausschließlich, mußte dabei an den Lohn ewigen Heiles und die Strafe ewiger Verdammnis für die Lebensleistung des Menschen im Ganzen gedacht werden. Unter der in der Theologie mindestens seit Augustin anerkannten Voraussetzung, daß die Menschen als Sünder eine das Heil in strengem Sinne verdienende Leistung überhaupt nicht erbringen können, hatte das zur Folge, daß die G. G. vor allem in die Beleuchtung vergeltender  Straf-Gerechtigkeit trat: würde Gott nur nach iustitia distributiva im strengen Sinn handeln, so konnte nur diese in Frage kommen. Die G. G. trat damit in gegensätzliche Spannung zu der Barmherzigkeit und Gnade, aus der Gott Heil gewährt. Biblische Aussagen wie die oben zitierten, in denen die Gerechtigkeit als Heilskraft erscheint, mußten zum Problem werden.
   Nun hatte zwar schon  Augustin im Zuge seiner Beschäftigung mit Paulus die Anwendung des philosophischen Begriffs der nach Maß vergeltenden Gerechtigkeit auf die G. G. durchbrochen. Er hatte definiert: Iustitia Dei non qua iustus est Deus, sed quam dat homini Deus, ut iustus sit homo per Deum (MPL 35, 1607). Die Gottes-Gerechtigkeit ist also nicht Eigenschaft, die Gott in sich selbst behält, um nach ihr den Sünder lediglich zu beurteilen bzw. zu verurteilen, sondern Eigenschaft, die Gott - und zwar aus reiner Gnade - dem Menschen mitteilt, um ihn gerecht zu machen. Diese und ähnliche Definitionen Augustins wurden in der mittelalterlichen Theologie zwar tradiert, aber sie konnten den Einfluß des Begriffs der nach Leistung vergeltenden Gerechtigkeit nicht überwinden. In dem Maß, als dieser im Vordergrund stand, blieb man mit dem Problem des Verhältnisses von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit beschäftigt und fragte nach dem »Ausgleich« beider Eigenschaften in Gott selbst. Dieser Ausgleich konnte auf einem auch von Augustin zumindest offengelassenen Wege darin gesucht werden, daß Gott, nachdem er dem Menschen durch die Sakramente die Eigenschaft der Gerechtigkeit mitteilt, kraft dieser nun in den Menschen hineingelegten Eigenschaften von ihm »Verdienste« erwarten darf, auf Grund deren er ihm im Endgericht nun wirklich auch im Sinn der belohnend-vergeltenden Gerechtigkeit Heil zusprechen kann. Der Einfluß des Begriffes der vergeltenden Gerechtigkeit konnte ferner dahin erweitert werden, daß schon das Eingehen des Menschen auf das Angebot der sakramentalen gerechtmachenden  Gnade (: IV) als ein gewisses  Verdienst (: IV) aufgefaßt wurde, dem diese Gnade und ihre Vollendung zu endgültigem Heile dann zwar als ein überschwänglicher, aber aus der Kategorie der nach Leistung vergeltenden Gerechtigkeit doch nicht schlechterdings herausfallender Lohn zuteil wird. Daneben trat in der Scholastik noch ein andersgearteter Versuch zutage, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit Gottes in Zusammenhang zu bringen: Gerechtigkeit wird verstanden als diejenige Eigenschaft Gottes, kraft deren er tut, was seinem eigenen Wesen als der Wirklichkeit höchster Güte gemäß und geziemend ist. Dazu gehört, daß er das Böse bestraft, aber auch, daß er den Schwachen und Sündern gegenüber Milde walten läßt. Er ist dies gleichsam sich selbst schuldig und wird damit seiner eigenen Größe und Güte gerecht. Dieser Begriff der G. G., in dem das Moment der strafenden Vergeltung von einem Moment barmherziger Güte gleichsam überhöht ist, ist u. a. bei  Anselm (Proslogion c. 10) und  Thomas hervorgetreten. Neben ihm wie neben dem augustinischen Begriff der G. G. blieb indessen das Verständnis der Gerechtigkeit als vergeltend-belohnender Reaktion mehr oder weniger unausgeglichen stehen. - Erst  Luther hat es von seiner Römerbrief-Vorlesung an radikal durchbrochen, indem er die Erkenntnis Augustins nachvollzog: Gottes Gerechtigkeit ist nicht eine Eigenschaft, nach der Gott in sich selbst so gerecht ist, daß er auf das vom Menschen Gebotene in Entsprechung reagiert, sondern die Gerechtigkeit, die Gott schenkt und wirkt, indem er sie den Sündern aus Gnade und ohne Rücksicht auf deren eigenes Aussehen zuspricht. Luther geht dabei darin über Augustin hinaus, daß er diese geschenkte Gerechtigkeit nicht als eine dem Menschen nunmehr übereignete Eigenschaft durchreflektiert (so daß im Endgericht schließlich doch wieder das im Menschen Gegebene zum Grund der Entscheidung Gottes werden könnte). Er versteht vielmehr das Leben des Menschen in dieser Gerechtigkeit, ohne deren reale Wirkungen in Abrede zu stellen, ganz als ein ständiges Sich-selbst-empfangen aus der Zuwendung Gottes. Es ist Sein aus der Gegenwart Gottes und darum Leben in der Gerechtigkeit.
   

   
2. Damit war es möglich geworden, die biblischen Aussagen über die G. G. als Heilsmacht ungebrochen durch heterogene Gerechtigkeitsbegriffe neu zu verstehen. Man kann diese Aussagen in der Tat nur verstehen, wenn man sich klar macht: Gottes-Gerechtigkeit ist weder Eigenschaft, die Gott in sich selbst hat, noch auch Eigenschaft, die er dem Menschen mitteilt, so daß nun auch dieser sie in sich selbst hat im Gegenüber zu Gott. Sie ist vielmehr ein Wirken, durch das Gott zu sich selbst in ein Verhältnis setzt, und sie ist das Verhältnis selbst, das aus diesem Wirken entspringt. Gottes-Gerechtigkeit ist die Wirklichkeitsmacht der Gemeinschaft, die Gott den Menschen mit sich selbst gewährt, in der er ihnen Lebensrecht gibt und es mit ihrem Leben recht macht. Die Eröffnung dieser Wirklichkeit ist keineswegs nachträgliches Reagieren Gottes auf menschliche Vorgegebenheiten und Leistungen, sondern aktives, schöpferisches Handeln, und zwar heilschaffendes Handeln. Sie ist ihrem Wesen nach das unbedingt Vorgegebene, aus dem alles rechte Menschsein erst entspringt.
   Daß Gott dieses Heil dem Sünder gewährt, ist freilich nicht selbstverständlich. Es ist auch auf dem Wege jenes mittelalterlichen Begriffs der G. G. als der Eigenschaft, kraft deren Gott es seiner eigenen Größe und Güte schuldig ist, Milde zu üben, nicht zu postulieren. Denn  Sünde (: V. VI) heißt ja, daß der Mensch sich dem Leben in der Gemeinschaft mit Gott entzieht, sich selbst außerhalb des Raumes der sein Recht schaffenden G. G. stellt und sich sein eigenes Recht zu schaffen sucht: sei es in offener Auflehnung gegen Gottes Willen, sei es in einem Gehorsam, der sich als Leistung geltend machen, die »eigene Gerechtigkeit aufrichten« will und damit sich in Gottlosigkeit verkehrt. Gottes-Gerechtigkeit wird sich zwar auf alle Fälle als die allen Widerspruch vertilgende Wirklichkeit durchsetzen. Aber dies kann bedeuten, daß sie den Menschen, der sich ihrer heilschaffenden Kraft entzogen hat und sein eigenes Heil und Recht zu schaffen sucht, diesem seinem eigenen Weg überläßt und ihn daran sterben läßt. Wenn Gott dies tut, so ist das nicht ungerecht - die Bibel spricht in der Tat auch von den gerechten Gerichten Gottes. Das die Scholastik beschäftigende Problem der Spannung zwischen Gericht und Gnade ist also der Sache nach durchaus kein Scheinproblem. Aber seine Formulierung als Spannung zwischen Gerechtigkeit und Gnade Gottes ist irreführend. Denn das  Gericht (: IV) ist nicht eigentlich die Auswirkung der G. G. (als ob diese wesenhaft vergeltende Straf-Gerechtigkeit wäre), sondern vielmehr dies, daß die heilschaffende Gottes-Gerechtigkeit sich dem Menschen, der sich ihr entzogen hat, ihrerseits entzieht, ihm fernbleibt, ihn seiner eigenen Ungerechtigkeit und deren Folge, dem Tode,  überläßt. In diesem Zusammenhang wird in der Bibel im allgemeinen gerade nicht von der Wirksamkeit der Gottes-Gerechtigkeit, sondern von der des  Zornes Gottes gesprochen. Umgekehrt ist nach Röm 1, 17 gerade das Evangelium von Jesus Christus, der uns aus dem Zorn rettet (Röm 5, 9) und im Gericht für uns eintritt (Röm 8, 34), Offenbarung, d. h. siegreiche und heilschaffende Selbstdurchsetzung der Gottes-Gerechtigkeit. Über die Erkenntnis hinaus, daß Gott den Menschen als Mensch zum Leben in seiner Gerechtigkeit ruft, ist hier noch mehr gesagt. In der Sendung Jesu Christi holt Gott den Menschen als  Sünder in die Wirklichkeit der Gemeinschaft mit ihm zurück; nicht nur ohne dessen Leistung, sondern  gegen dessen Schuld und Verfallensein an das Gericht. Gott läßt seine heilschaffende Gerechtigkeit dem, der sich ihr entzogen hat, nicht fernbleiben, sondern sendet sie ihm nach in seine Entfremdung hinein. Er tritt damit seinem eigenen Zornesgericht entgegen. Die Selbstdurchsetzung der Gottes-Gerechtigkeit wird zur  Rechtfertigung (: III), d. h. zur Gemeinschaftsannahme des Gott-losen durch Vergebung der Sünden. Dies ist keine Rechtfertigung der Sünde, denn sie wird im Kreuzestod Jesu gerichtet und abgetan. Aber dem Sünder ist es die Gewährung grundloser Begnadigung da, wo er dem Überlassenbleiben an den Todesbereich seiner Sünde verfallen war. Es ist dies auch nicht eine bloß nominelle Gerechtsprechung, in der Gott auf das Wirksamwerden seiner Gerechtigkeit in den Begnadigten verzichtete. Denn eben indem diese die grundlose Begnadigung sich widerfahren lassen, geben sie Gott die Ehre, daß er und nicht sie selbst ihre Gerechtigkeit wirkt. Sie treten damit an den Ort, der Gott gegenüber ihr rechter Ort ist. Indem sie in der glaubenden Annahme der Begnadigung bleiben, bleiben sie in der Gemeinschaft der Gegenwart Gottes, und diese kann gestaltend in ihrem Leben wirksam werden.

    M. LUTHER, Vorlesung über den Röm (WA 56; dt. Übers. von E. ELLWEIN in: Luthers Werke, Münchener Ausg., ErgBd. II, 19574). - Zum mittelalterl. Verständnis von G. G. u. seinem Verhältnis zu Luther: K. HOLL, Die iustitia dei in der vorluth. Bibelauslegung des Abendlandes (Festg. f. A. v. Harnack, 1921, 73-92 = HOLL III, 171 bis 188) - O. TIILILÄ, Das Strafleiden Christi, 1941 - H. BORNKAMM, Iustitia Dei in der Scholastik u. bei Luther (ARG 39, 1942, 1-46). - Systematisch: BARTH, KD II/1, § 30 - H. J. IWAND, Glaubens-Gerechtigkeit nach Luthers Lehre, (1941) 19512 - P. ALTHAUS, Die christl. Wahrheit, (II, 1948) 19584, § 26 - F. GOGARTEN, Die Verkündigung Jesu Christi, 1948, 311 ff. - H. VOGEL, Die G. G. u. die Faktizität des unschuldigen Leidens in der Gesch. (ThLZ 75, 1950, 263-270). - Vgl. ferner ESL 413 ff. - EKL I, 1503 ff. - Die Lit. zu  Gesetz: V. VI,  Rechtfertigung: II. III.
                                                                     W. Joest

Gerechtigkeit des Menschen, ethisch
   
1. Auch in seiner Anwendung auf den Menschen ist das Wort G. mehrdeutig. Unter G. verstehen wir das, was der Mensch sein soll, in seiner ganzen Fülle. Mit der G., die bei uns besser sein soll als bei den Pharisäern und Schriftgelehrten (Mt 5, 20), ist nicht eine christliche Tugend neben anderen gemeint, sondern die Ganzheit des christlichen Lebens. Daneben aber gebraucht man in der christlichen  Ethik das Wort G. als Ausdruck für eine Haltung, die jedem das Seine läßt oder zuteilt oder wieder verschafft, und nimmt dabei den aristotelischen G.sbegriff mit den Unterscheidungen von genereller und partikulärer G., iustitia distributiva und commutativa, austeilender und ausgleichender G. auf. - Eine andere Unterscheidung, die namentlich im luth. Raum üblich wurde, ist die von iustitia evangelica und iustitia civilis. Die G. im Sinne der christlichen Vollkommenheit ist nur als göttliches Geschenk möglich, ja nur so, daß Gott den Glaubenden um Christi willen als gerecht ansieht (forensische G.;  Gerechtigkeit Gottes: IV). Auch die G. im engeren Sinne als »dem Nächsten das Seine geben« kann als radikale Forderung gemeint sein, als Nächstenliebe, und dann wird sie nur unter der Gnade und Verheißung Wirklichkeit. Iustitia civilis ist entweder das äußerliche Wohlverhalten ganz allgemein oder die Behandlung des anderen nach den äußeren Normen der Rechtlichkeit.
   
2. Von der äußerlichen G. im engeren Sinne des Wortes ist hier die Rede. So verstanden ist G. eine persönliche  Tugend. Ohne Menschen, die gerecht handeln wollen, ist G. überhaupt nicht möglich. Aber G. ist mehr als persönliche Rechtlichkeit, ist eine  Norm, die in den zwischenmenschlichen Beziehungen und innerhalb der Gemeinschaftsformen objektiv gelten soll. Daher spricht man von gerechten und ungerechten Staaten, von gerechtem Gericht und gerechter Strafe, von gerechtem  Lohn und gerechten Preisen ( Wert), von gerechter und ungerechter  Eigentums-Verteilung usw. Im Wesen der G. liegt es, daß ich als Mensch im Zusammenleben mit anderen Menschen nicht nur eine Pflicht zur G. habe, sondern auch einen Anspruch auf G. Erfahrene Ungerechtigkeit gibt dem Christen (vgl. Mt 5, 38-42) zwar nicht einfach ein Recht auf Gegenwehr, aber ein Recht auf Anklage (vgl. Joh 18, 23). Ja, der  Staat als Sachverwalter der G. hat G. u. U. unter Anwendung voll Gewalt zu erhalten bzw. herzustellen.
   
3. G. bedeutet zunächst einmal Wahrung der Rechtsordnung und gewissenhafte,. sorgfältige Anwendung derselben. Der gerechte Richter ist der nach dem (positiven)  Recht urteilende leichter, während der, der willkürlich entscheidet, ein ungerechter Richter ist. Wo der Grundsatz der Unverbrüchlichkeit des Rechtes gilt, spricht man von einer gerechten Staatsordnung. Solange man G. so versteht, gibt es kaum Probleme. Aber gerechte Preise oder gerechte Löhne lassen sich kaum von der positiven Rechtsordnung her bestimmen. Darüber hinaus ist G. eine Norm, an der sich auch die positive Rechtsordnung messen lassen muß. Oft genug haben staatliche Systeme im allgemeinen Urteil als ungerecht gegolten und sind ungerecht gewesen. Damit aber ergeben sich schwerste Probleme. G. ist eine Uridee, und sie weist hin auf eine Urordnung. Aber wie ist diese Urordnung nun zu fassen und zu formulieren? Die immer wieder versuchte Weise, die G.sidee zu begründen, ist der Rückgriff auf ein  Naturrecht. Aber welches ist die Naturordnung, die. sich im Naturrecht ausdrückt? Ist die  Gleichheit aller Menschen ewige Ordnung und demgemäß gleiche Behandlung aller Menschen gerecht ( Stoa)? Oder ist eine abgestufte Ordnung die Urordnung, im Sinne - Platos oder des indischen Kastenwesens ( Kaste) oder anderswie verstanden? Je nach der Vorstellung von der Urordnung gilt die Zahlung gleichen Lohnes für alle als gerecht; oder es gilt als gerecht, daß der Kuli nur mit Kupfer bezahlt wird, wobei Ungerechtigkeit erst dann eintritt, wenn ihm die übliche Menge von Kupfermünzen verweigert wird. Aller Ruf nach G. ist auf eine ursprüngliche Ordnung bezogen. Aber ist die Annahme einer solchen nicht Wahn und Trug?
   Die biblizistische Lösung des G.sproblems führt nicht weiter als die naturrechtliche. Auch die Bibel (in Frage kommt wohl überhaupt nur das AT) zeigt uns Ordnungen (nicht immer in der Verwirklichung, sondern in der prophetischen oder legislatorischen Verkündigung), die für eine bestimmte Zeit als gottgewollt gelten konnten. Es ist eine tiefe Erkenntnis der Reformatoren, daß sogar der  Dekalog, wo er konkret wird, der »Juden Sachsenspiegel« ist.
   Was die Verwirklichung gerechter Lebensordnungen betrifft, so gibt es bestenfalls ein Fortschreiten von Schlechterem zum Besseren, also nur G. im relativen Sinn. Es gab Zeiten, da Abschaffung der  Sklaverei Utopie war, Milderung der Sklaverei aber Gebot der G. Und doch stehen Einzelmensch und Gemeinschaft ( Gemeinschaft und Individuum: IV) immer unter der Forderung der Verwirklichung der G. Wo Christus nicht erkannt und geglaubt wird, bleibt keine andere Möglichkeit, als von dem angeborenen Wissen um G. aus und dem Instinkt für das, was jetzt gerechter ist als das Bestehende, der besseren G. Raum zu schaffen. Auch der Christ hat nüchtern die gegebenen Verhältnisse zu bedenken und in ihnen um das Recht des Menschen zu kämpfen. Aber er wird das als Christ nie zu versuchen wagen, ohne sich zugleich und vor allem unter Mt 6, 34 zu stellen und am ersten das Reich Gottes und seine G. zu suchen.
   
4. Der Christ steht unter dem Gebot der  Liebe (:IV), und nicht nur unter dem der G. Es ist richtig (E. Brunner), daß die Liebe nicht an der G. vorbeigehen darf, sondern über sie hinaus und durch sie hindurchgehen muß. Ferner ist es so, daß in den intimsten Gemeinschaftsbezügen, also in der  Ehe und in der  Familie, sich G. und Liebe leicht und beglückend zueinander gesellen. Aber insbesondere dort, wo G. praktiziert, also mittels Einsatz von Macht durchgesetzt werden muß, im Staat und bes. im  Strafrecht, treten G. und Liebe in schwere Spannung zueinander, die der Christ, der ein Amt der G. verwaltet, im Glauben zu tragen hat. Das Höchste an der christlichen Liebe ist das bedingungslose Vergeben; G. kann Verweigerung der Vergebung an den Bußfertigen bedeuten: um der G. willen muß ein Urteil vollstreckt werden. Die beiden  Regimente Gottes werden im Widereinander von Liebe und G. anschaulich. Der Dualismus der christlichen Ethik, der durch die Gebote der Liebe und der G. bezeichnet wird, ist in diesem Äon unaufhebbar. Er löst sich nur in der Hoffnung auf das Ende aller irdischen Dinge.

    E. BRUNNER, G., 1943 - H. COING, Die     obersten Grundsätze des Rechts, 1948 - ERIK WOLF, Rechtsged. u. bibl. Weisung, 1948 - H. E. WEBER-ERNST WOLF, G. u. Freiheit, 1949 - G. BERGMANN, Das Problem der G. bei H. Kutter u. E. Brunner, 1951 - W. SCHÖNFELD, Über die G., 1952 - H.-H. SCHREY, Die Bedeutung der bibl. Botschaft f. d. Welt des Rechts, 1952 - H. KELSEN, Was ist G.?, 1953 - J. PIEPER, Was ist G.?, 1953 (kath.) - R. BRING, Den lutherska synen pa världen och det värdliga livet, 1953 - H. H. WALZ-H.-H. SCHREY, G. in bibl. Sicht, 1955 - E. SCHOTT, Die zeitliche u. die ewige G., 1955 - P. TILLICH, Liebe, Macht, G., 1956 - H.-D. WENDLAND, Die Kirche in der mod. Gesellsch., 1956 - R. NIEBUHR, Love and Justice, 1957 - E. E. SCHNEIDER, Das Mysterium der G. (ThZ 13, 1957, 109-135).
                                                                        F. Lau


[Gerechtigkeit Gottes, Gerechtigkeit des Menschen. Digitale Bibliothek Band 12: Religion in Geschichte und Gegenwart, (c) J.C.B. Mohr (Paul Siebeck)]





Backward Forward Post Reply List