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Busse bringt Heilung
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RHEIN-NECKAR-ZEITUNG / Nr. 265     Seite 11
Religion und Kirche
Mittwoch, 16. November 2005.



Buße bringt Heilung

Der Buß- und Bettag - Licht im November / Von Michael Welker

Viele Menschen verbinden Buße und Bußtag mit gedrückter Stimmung an einem grauen, nasskalten Novembertag. Der Bußtag scheint so zu Volkstrauertag und Totensonntag zu passen - als Tag, an dem Menschen schuldbewusst der verfehlten oder verlorenen Handlungs- und Lebensmöglichkeiten gedenken.

Suche nach neuer Orientierung

Fast alle Religionen kennen Buß- und Bettage, die oft auch Fasttage sind. Im Bereich der christlichen Kirche wurden sie als Feiertage in Kriegs- und Notzeiten eingeführt oder als jährlich, monatlich oder sogar wöchentlich wiederkehrende Tage, die der Besinnung dienen sollten und der Suche nach neuer Orientierung. Dass die Landesherren, also die weltliche Macht, zusammen mit den kirchlichen Obrigkeiten zu Bußtagen aufriefen, geht auf das römische Recht zurück. Der erste evangelische Bettag 1532 in Straßburg erfolgte auf Anordnung des Kaisers - als allgemeines und öffentliches Gebet im Krieg gegen die Türken.
In Notzeiten wurden von den um das Landeswohl besorgten weltlichen Obrigkeiten immer wieder Landesbußtage angeordnet, die dann kirchlich zu begehen waren. Obwohl schon im 18. Jahrhundert von vielen Seiten gegen die Inflation der Bußtage gekämpft wurde, gab es noch 1878 in 28 deutschen Ländern 47 verschiedene Buß- und Bettage an 24 verschiedenen Kalendertagen.
In unseren pluralistischen Gesellschaften heute wirkt dieses Zusammenspiel von staatlicher und kirchlicher Macht eher befremdlich. Können wir da nicht aufatmend feststellen: Die Geschichte der Buß- und Bettage hat in Deutschland im 20. Jahrhundert dazu geführt, dass dieser Tag nur noch an einem einzigen Tag begangen und schließlich - erfreulicherweise - als allgemeiner Feiertag ganz abgeschafft wurde?

Die Aussicht auf Besserung

Die Wörter ,,Buße“ und ,,bußen“ bedeuten ursprünglich Nutzen, Vorteil bzw. bessern, heilen, wiedergutmachen. Anders als bei Besserungsgelöbnissen in Sektlaune am Silvesterabend geht es beim kirchlichen Buß- und Bettag um die ernste Besinnung von Einzelnen und der Gemeinschaft auf Krisen und Gefährdungen des Lebens, die von anderen und von uns selbst ausgelost sind. Vor allem aber geht es um die Aussicht auf einen neuen Anfang, auf Besserung und Heilung. Dass die Buße mit dem Gebet verbunden wird, macht den Ernst und die Tiefe der Besinnung deutlich. Mit moralischen Erwagungen und Hin- und Herüberlegungen von Individuen und der Gemeinschaft ist es dabei ganz offensichtlich nicht getan. Vielmehr ist das Fragen und Suchen, das Einsehen und Erkennen ,,vor Gottes Angesicht“ nötig, also vor der Instanz, die nach abendländischen Grundüberzeugungen dafür einsteht, dass Wahrheit, Gerechtigkeit und Gute keine leeren Wörter sind.
Fehlt uns ein solcher Tag der Besinnung, der Einkehr und des ernsten Nachdenkens über die Gefährdungen und Selbstgefährdungen unserer Gesellschaften, unserer Religions und Bildungssysteme, über mögliche Fehlsteuerungen unserer politischen, rechtlichen und moralischen Kommunikation, über die drohenden Verrohungen in medialen und wirtschaftlichen Entwicklungsdynamiken und über die Gefahr, dass Familie und Zivilgesellschaft ausgehöhlt werden? Ein solcher Tag fehlt uns nicht als aufgenötigte oder verzweifelte Nabelschau. Einen Tag allgemeinen Seufzens und Klagens, einen Tag des moralischen Kampfes aller gegen alle oder einen Tag der staatlich verordneten und kirchlich abgewickelten markigen Spruche brauchen wir nicht. Ein Buß- und Bettag fehlt uns aber dann, wenn wir ihn als konstruktive Besinnung auf die fruchtbaren Alternativen verstehen, auf die oft unscheinbaren Besserungs- und Losungsansatze in den verschiedenen Lebensbereichen angesichts erkannter Gefährdungen. Ein Tag des ernsten Suchens und Fragens - von Einzelnen und in der Gemeinschaft - nach den ,,guten Machten, die uns Menschen wunderbar bergen“, nach konkreten Wegen aus den Gefahren, mit denen wir uns konfrontiert sehen, tut allen not und tut allen gut.

Eine ,,Christophobie“ in Europa?

Es ist natürlich leichter, die Schwierigkeiten zu erkennen, in die andere sich gebracht haben, und ihnen dann zu empfehlen, Buße zu tun. So haben konservative nordamerikanische Kulturkritiker in jüngster Zeit eine ,,Christophobie“ in Europa diagnostiziert, eine starke Befangenheit gegenüber religiösen und christlichen Inhalten und Grundlagen unserer Kultur. Der Entwurf der Europäischen Verfassung mit seiner religiös-weltanschaulichen Sprachlosigkeit sei nur die Spitze des Eisbergs. Katastrophale Reproduktionsraten - der stärkste Bevölkerungsrückgang in Europa seit der Pest - und anhaltender religiös-kultureller Bildungsverfall gingen Hand in Hand. Das demonstriere die Hoffnungs- und Ziellosigkeit Europas, das bis zum Ersten Weltkrieg der Neuen Welt Vorbild sein konnte.
In düsteren Bildern sehen diese Kritiker Europa zu einem ,,Eurabien“ werden, das zu-erst das jüdisch-christliche Erbe preisgibt und dann die freiheitlich-demokratischen Verfassungen verliert. Demgegenüber preisen sie die stabile Religiosität Amerikas, in dem sich 90 Prozent der Bevölkerung jüngst dafür ausgesprochen haben, die Formulierung ,,Eine Nation unter Gott“ (One nation under God) in der öffentlichen nationalen Treuebekundung, die zum Beispiel an fast allen Schulen regelmäßig feierlich gesprochen wird, beizubehalten.

Zivilreligiöse Stimmung in den USA

Im Gegenzug sehen viele Europäer die große Gefahr, dass die starke zivilreligiöse Grundstimmung in den USA für eine militaristische Hegemonialpolitik instrumentalisiert wird, die die schlimmsten Fehler der europäischen Geschichte zu wiederholen droht. Wechselseitig, so scheint es, mochte man sich Buß- und Bettage in die Kalender schreiben, um die beim anderen festgestellten Fehlentwicklungen aufzuhalten.
Wenn Menschen sich wahrhaft religiös besinnen, kann es kaum zu solch plakativen und selbstgerechten Aufrufen kommen, politisch, moralisch und religiös Buße zu tun. Der Bußruf des Evangeliums fixiert den Blick nicht einfach auf Fehlentwicklungen und große Gefahren. Vielmehr verweist er auf einen verheißungsvollen, wenn auch meist unscheinbaren neuen Anfang. ,,Das Reich Gottes ist nahe!“ Dieses Wort des Evangeliums meint ,,das Reich“ der vielen evidenten Erfahrungen von Annahme unter den Menschen, von Liebe und Vergebung. Es bezieht sich auch auf die vielen dankbaren Antworten darauf, die ihrerseits in der' praktizierten Annahme von Menschen, in Liebe und Vergebung bestehen.
Die wirklich große Besserung und Heilung ist überaus vielgestaltig und kann im Einzelnen ganz unscheinbar sein. Deshalb sehen Menschen - wie den Wald vor lauter Bäumen - oftmals vor all den kleinen Kräften nicht die große Kraft, die im Kommen dieses Reiches wirkt. Doch in den un-scheinbaren guten Kräften und ihrer wechselseitigen Verstärkung ist die große Kraft der Erneuerung wirksam.
Der Buß- und Betttag kann ein Tag sein, der der ernsten Besinnung von Einzelnen und der Gemeinschaft auf die guten Kräfte in unseren Lebensbereichen dient, die zur Besserung, Erneuerung und Heilung führen. Wenn wir das erkannt haben, können wir auch sensibel dafür werden, dass wir oft leichtfertig mit diesen guten Kräften umgehen und uns sogar selbst vor ihnen verschließen. Der Buß- und Bettag wird weder Leichtsinn noch Undankbarkeit, weder Trägheit noch Elend unter uns ignorieren. Doch hilfreich und segensreich ist er vor allem als Tag, an dem Menschen in der ernsthaften Suche vor Gott nicht länger schuldbewusst auf verpasste und verstellte Lebensmöglichkeiten fixiert sind, sondern neue Wege suchen und entdecken. Der Buß- und Bettag – ein erhellender Tag im oft trüben und traurigen Monat November

Prof. Michael Welker hat den Lehrstuhl für Systematische Theologie (Dogmatik) an der Universität Heidelberg inne.



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